Die zweite Flucht

Es hätte einfach schön werden können, und im Wesentlichen wurde es das auch. Nur noch einmal in der Woche Schatzvulkan zu spielen bewirkte, dass sie ein freies Wochenende für sich hatte. Und das erste davon nutzte sie endlich einmal wieder, um allein im Gebirge zu übernachten.

Ahnas Besuch bei der Verlegerin war für die Schwester sehr gut ausgegangen. Sie war in eine Schreibgruppe für Kochbücher eingeladen worden, wo sie nun zweimal in der Woche teilnahm. Dadurch trafen sie sich nun unter der Woche nur noch einmal und Ahna erzählte begeistert von ihren Sitzungen. Myrie freute sich sehr für sie. Ihr Verhältnis änderte sich dadurch, aber das taten Verhältnisse eben mit der Zeit. Und es veränderte sich in einer guten Art. Ahna war glücklicher und interessierte sich mehr dafür, was Myrie eigentlich tat. Es tat auch Myrie gut, über ihre Schulerlebnisse zu erzählen. Die seltsamen Träume, die auf ihre Schatzvulkanetappen folgten, wurden weniger.

Auch die morgendliche Routine des Trainings mit Olge trug dazu bei, dass sich allmählich eine Art Alltag und Struktur einpendelte, die Myrie half, nicht mehr die ganze Zeit erschöpft zu sein, sondern auch das Gefühl zu haben, atmen zu können. Sie war zufrieden mit ihrem aktuellen Leben.

Aber es blieb selten alles so, wie man es haben wollte. Die erste unschöne Veränderung war die, dass Hermen herausfand, wo Myrie jeden Morgen vor dem Unterricht hinverschwand, – er hatte einfach nachgefragt und Myrie naiv einfach geantwortet –, und nun fast jeden Morgen bei ihrem Training zusah und es kommentierte. Das durchbrach die entspannte, meditative Stimmung. Als er das erste Mal aufgetaucht war, und seine ersten Kommentare gemacht hatte, darüber dass Myrie niemals eine Chance gegen Olge haben würde, hatte Olge pausiert und sich direkt vor ihn gestellt.

“Möchtest du probieren?”, fragte sie.

“Nein danke, ich möchte mein Gehirn noch benutzen können und nicht durch ständigen Aufprall auf den Boden verblöden.”, antwortete er gehässig.

“Dann hast du hier nichts verloren.”, sagte Olge verärgert.

Sie ging damit nur auf die Ablehnung es zu probieren ein, nicht auf den Kommentar, der darauf folgte.

“Ich glaube, mir ist es auf diesem Schulgelände erlaubt, mich aufzuhalten, wo es mir beliebt.”, sagte er süffisant.

Olge machte eine drohende Bewegung mit ihrer linken Hand. Myrie wunderte sich, denn Olge war rechtshändig dominiert, soweit Myrie es beobachtet hatte. Außerdem wunderte sie sich darüber, dass Hermen absolut ruhig blieb. Myrie hätte Angst bekommen, so bedroht zu werden.

“Mir ist außerdem das Gerücht zu Ohren gekommen,”, fügte Hermen im gleichen Tonfall hinzu, “dass du eine letzte Verwarnung bezüglich gewalttätigem Verhalten gegenüber Mitlernenden bekommen hast und daher mir besser kein Haar krümmen solltest, wenn du weiter hier zur Schule gehen möchtest.”

“Gut recherchiert”, murrte Olge. “Allerdings solltest du auch wissen, dass ich auch zuvor Verwarnungen hatte und ich zwar schon auf der Schule bleiben möchte, aber mich der Wunsch nicht davon abgehalten hat, bei so kleinen, fiesen Schrumpfschläuchen wie dir die Beherrschung zu verlieren und dein wertvoller Kopf dann unabhängig davon im Dreck landet, ob ich auf der Schule bleibe oder nicht.”

“Für das eine Mal, dass du die Gelegenheit dazu hättest, ist mir das die Sache wert.”, gab Hermen zu verstehen.


Er kam nicht, wenn es regnete, und immerhin regnete es viel im Herbst. Und wenn es nicht regnete, rief Olge manchmal morgens an und bestimmte einen anderen Trainingsort. Da sie aber die weiche Wiese um das Schulgelände herum bevorzugte, fand Hermen sie stets früher oder später doch.


Die zweite Veränderung war weniger unschön, aber es beschäftigte Myrie sehr: Es nahte das letzte Wochenende des Jahres, ein langes Wochenende, und es sollte von Morntag bis zum Neumondtag, dem ersten Tag des neuen Jahres, eine Neujahrsfeier in der Schule geben. Myrie informierte sich intensiv über den Ablauf und überlegte, ob sie dieses eine Wochenende in der Schule bleiben wollte. Am Morntag durften Lernende ihre Projekte vorstellen, an denen sie gerade arbeiteten oder forschten. Vier große Räume der Schule waren dafür als Veranstaltungsräume reserviert, in denen parallel Vorträge oder andere Arten von Präsentationen stattfinden würden. Es gab eine Liste der Präsentationen dafür, aus denen die Lernenden auswählen konnten, welche sie am liebsten hören wollten. Eine Woche vor der Veranstaltung würde dann daraus ein Stundenplan abgeleitet werden, in dem die Präsentationen dann so auf Zeitabschnitte und Räume verteilt würden, dass die Lernenden möglichst viele ihrer Wunschvorträge überschneidungsfrei ansehen konnten. Es gab weder die Pflicht, sich am Ende anzuhören, was man ausgewählt hatte, noch musste man überhaupt auswählen. War der Stundenplan erst einmal generiert, könnte Myrie daraus frei aussuchen, welche Vorstellungen sie sich ansehen und anhören wollte. Die Liste war noch nicht vollständig. Die Einreichfrist war noch nicht verstrichen. Aber aus denen, die bereits feststanden, fand Myrie tatsächlich einige sehr ansprechend.

Am darauffolgenden Nestag fanden in der größten Spielhalle der Schule verschiedene Aufführungen statt, die Lernende teilweise eigenständig und teilweise mit Lehrkräften konzipiert hatten. Kurz vor dem Jahreswechsel würden die Vorstellungen zu Ende sein und im Freien würde ein EM-Lichterspiel stattfinden, das man zum Jahreswechsel bewundern dürfte. Am Neumondtag war unterrichtsfrei. Statt Unterricht beizuwohnen, würden sie aufräumen, was es aufzuräumen gäbe.

Der eingeschobene Tag vor Morntag, der Glotag, der zum langen Wochenende gehörte, würde als Vorbereitungs- und Aufbautag dienen. Allerdings wurde die große Spielhalle schon eine Woche vorher für Aufbauarbeiten gesperrt werden und es würden an jenem ersten Wochenendtag des letzten Wochenendes des Jahres schon viele Vorbereitungen für den Aufbau getroffen worden sein.


Ausschlaggebend für ihre Entscheidung war schließlich Daina, die sie an einem Morntag morgen im Morgengrauen anrief. Myrie hatte im Gebirge bei Byrglingen übernachtet und war vor einer halben Stunde aufgewacht, hatte sich aber noch nicht aus ihrem Schlafsack bewegt, weil es so behaglich darin war.

Es roch nach kühler Feuchte. Nicht durch Regen, sondern nach dem Morgentau, der sich auf das Felsgestein legte. Myrie gab Omantra das Handzeichen, dass bestätigte, dass sie das Gespräch mit Daina annahm.

“Myrie, ich weiß, wie wichtig dir dein Wochenende ist. Kannst du mich trotzdem treffen?”, fragte sie. Sie sprach hektisch vor Aufregung.

“Ich bin im Gebirge und bräuchte etwa zwei Stunden nach Hause.”, sagte Myrie sachlich.

Dieses Mal gab sie den Zeitrahmen großzügig an, damit sie nicht wieder so sehr rennen musste.

“Zwei Stunden!”, rief Daina. “Du bist so früh morgens schon zwei Stunden von zu Hause entfernt!”

“Ich bin gestern Abend schon aufgebrochen.”, widersprach Myrie.

“Du bist in der Nacht umhergewandert?”, fragte Daina.

“Nein, ich bin gestern hierher gewandert und habe hier übernachtet.”, erklärte Myrie.

“Oha. Das ist sehr cool.”, antwortete Daina.

Myrie widersprach nicht. Sie fand es vielleicht nicht auf die selbe Art cool, wie Daina es meinte, aber auf ihre eigene Art war sie einverstanden.

“Also du bräuchtest zwei Stunden.”, nahm Daina den Faden wieder auf. “Würdest du es für mich auf dich nehmen, jetzt aufzubrechen?”

“Schon. Wozu brauchst du mich denn?”, fagte Myrie zögernd.

“Das Labyrinth ist fertig. Gestern hat es alle meine persönlichen Tests bestanden und heute Nacht ist es durch einen Standardsicherheitstest für Virtualitäten gelaufen und wurde zertifiziert dafür, dass ich nun Lebewesen hineinlassen darf. Ich habe noch nie eine Virtualität gebaut, die so lange für diesen Test gebraucht hat.”

Daina klang nicht wenig stolz, als sie das sagte, und Myrie freute sich mit ihr. Außerdem hatte sie, ohne es wirklich zu realisieren, schon eine Weile auf diesen Moment gewartet. Vielleicht nicht genau auf diesen. Sie wollte dieses Labyrinth sehr gern ausprobieren. Sie hatte aber nicht damit gerechnet, dass sie die erste Person sein würde, die es testen dürfte.

“Drei halbe Stunden, wenn alles gut geht.”, sagte Myrie.

“Oh, du bist toll!”, freute sich Daina.

Myrie blieb die Luft weg. Sie konnte nichts mehr sagen. Ein seltsames Gefühl verknotete sich in ihr. Es war positiv, aber machte sie eine Weile handlungsunfähig. Sie verkrampfte ihren Körper und schloss die Augen, und dann, als sie wieder Atmen konnte, fokussierte sie sich darauf, bis sie auch wieder denken konnte.

Es war schon unpraktisch, dass sie auf der einen Seite sich so freute, dass Daina sie anscheinend mochte, aber auf der anderen Seite sie, wenn ihr so etwas zu deutlich oder plötzlich gesagt wurde, so sehr die Kontrolle über sich verlor.

Sie fragte Omantra in Gebärdensprache, ob sie noch mit Daina verbunden war, aber Omantra teilte ihr mit, dass Daina das Gespräch beendet hatte.

Myrie entplusterte ihren Schlafsack und rollte ihn zusammen, unordentlicher, als sie es je getan hatte. Das müsste sie nachher noch einmal machen. Dann krabbelte sie an den Rand ihres Felsplateaus, das sie sich zum Übernachten ausgesucht hatte und sah hinab. Definitiv zu tief zum Springen und Abrollen. Also seilte sie sich ab. Schneller als sonst.

Sie war weniger fokussiert als sonst und wuschiger, was schließlich dazu führte, dass sie beim Abstieg einer schrägen, felsigen Wand abrutschte und eine spitze Felskante ihr in den Arm schnitt. Ihre Sicherung fing sie auf. Es war kein schlimmer Schnitt, aber er blutete leicht, was seit Langem nicht mehr passiert war. Es brauchte einiges an Wucht, damit etwas nicht völlig Scharfes wie eine Felskante durch ihre Haut dringen konnte.

Auch wenn sie sich wuschiger verhielt, und mehr Risiken einging, war sie doch nicht fahrlässig. Sie sicherte sich immer noch gut genug ab, dass ihr nichts Lebensbedrohliches, oder schlimmer Einschränkendes passieren könnte. Dennoch war sie ab jetzt doch vorsichtiger, und kam auf diese Weise nicht schon nach drei halben Stunden in ihrem Spielzimmer an.

Ahna schlief noch und so hielt sie niemand auf, direkt in Dainas Zimmer zu treten. Daina sprang auf, als Myrie erschien, und grinste breit und erwartend.

“Theodil meinte, er habe doch Zeit, weil er gestern Nacht noch mit Jahrzehnt der Fraktalfrösche durchgekommen ist. Hättest du was dagegen, wenn ihr euch das zu zweit anschaut? Das wäre kein Problem, Theodil kann auch später.”, fragte Daina. Sie sprach sehr schnell.

“Theodil ist in Ordnung.”, sagte Myrie.

“Fein, ich freue mich.”, sagte Theodil und materialisierte neben ihr.

Daina zeigte durch die offene Wand auf das sich langsam drehende Modell des Labyrinths. Die äußeren Seiten des Würfels waren inzwischen bunt gefärbt. Jede Seite in einer Farbe. Sie drehte eine der Ebenen mit einer Geste und zeigte, dass es nicht so blieb. Die Farben drehten sich auf den Rändern der gedrehten Ebenen mit.

“Mich hat es von vornherein an einen Zauberwürfel erinnert.”, sagte Theodil und nickte sachte vor sich hin.

Daina drehte die Ebene zurück, sodass der Würfel wieder sortiert war.

“In der grünen oberen Ebene ist ein Eingang ins Innere des Würfels durch den Mittelstein. In der unteren blauen Ebene ein Ausgang, ebenfalls im Mittelstein. Ziel ist es, oben hineinzugehen und unten herauszukommen. Ich habe es versucht, so zu bauen, dass man am besten herauskommt, wenn der Würfel am Ende wieder sortiert ist. Ich bin nicht sicher, ob mir das gelungen ist.”, erklärte Daina. “Wollt ihr?”

Theodil nickte. Myrie warf einen letzten Blick auf das Modell, dann bestätigte auch sie.

Im nächsten Augenblick stand sie mit Theodil auf der grünen Ebene des schwebenden Würfels. Sie ging an den Rand und sah hinab in ein gähnendes Nichts. Schmale, schwarze Rillen trennten die Ebenen voneinander und erstreckten sich in einem Karokastenmuster über die Oberfläche des Würfels und Myrie bemühte sich, nicht auf sie zu treten.

“Daina, hier ist Schwerkraft.”, stellte sie fest.

“Stimmt. Außen schon. Innen nicht mehr.”, antwortete Daina.

“Was passiert, wenn jemand im Würfel ist und eine vertikale Ebene dreht, auf der ich stehe?”, fragte Myrie.

“Entweder, du schaffst es rechtzeitig von der Ebene auf eine andere zu hopsen, oder du wirst vom Würfel katapultiert. Dann passiert das Gleiche, wie wenn du runterspringen würdest. Du würdest seicht vom unsichtbaren Boden aufgefangen und respawnst auf dem Würfel.”, erklärte Daina. Myrie ging zurück zum Eingang ins Labyrinth in der Mitte der Ebene.

“Warum bist du eigentlich nicht hier?”, fragte Myrie.

“Ich schaue lieber erstmal zu, wo ihr lang geht und wie ihr zurecht kommt, um euch einfacher rausholen zu können, wenn was passiert, oder um Anpassungen zu machen. Also es passiert sicher nichts Gefährliches und natürlich lässt sich immer jederzeit alles abbrechen. Aber für so kleinere Probleme, wenn ihr nicht weiterkommt oder so.”, sagte Daina.

Myrie nickte. Sie war sich nicht völlig sicher, ob Daina das mitbekam, aber sie hatte den Eindruck, dass Daina ihnen genau zusah in ihrem Modell des Würfels in der Wand.

Sie blickte Theodil an, der sie mit einer Geste einlud, zuerst durch das Loch in den Würfel zu steigen. Myrie folgte der Einladung und glitt in das Loch hinab. Es war ein lustiges Gefühl, wie ihr Körper sich plötzlich in Schwerelosigkeit befand, sie aber noch den Schwung vom kurzen Fall oberhalb des Würfels hatte. Sie stieß gegen eine Kurve und flog wieder zum Loch hinaus, allerdings nur bis zu den Schultern, dann zog die Schwerkraft oberhalb der Würfeloberfläche wieder an ihr und sie tunkte wieder ein, dieses Mal mit weniger Schwung. Die Wände hatten eine gummiartige Struktur, aber keine Griffe, sodass man sich sehr vorsichtig durch entsprechende Stöße navigieren musste. Noch dazu waren sie so breit, dass Theodil und sie mühelos aneinander vorbeipassten. Das war auf der einen Seite gut, auf der anderen machte es auch schwer, sich irgendwo festzuklemmen. Es war kaum möglich, irgendwo anzuhalten und in Ruhe nachzudenken. Das bereitete Myrie Stress.

“Hast du mal an Griffe gedacht?”, fragte Myrie.

“Vorsicht bitte, ich mache sie an.”, sagte Daina.

Myrie und Theodil wurden einen Augenblick fixiert und in die Mitte der Gänge verschoben, dann erschienen an den Wände Griffe mit ähnlicher Textur wie die Wände.

“Reichen die, oder mehr?”, fragte Daina.

“Sollte reichen.”, antwortete Myrie.

Die Fixierung löste sich und sie hielt sich dankbar an den Griffen fest, um sich umzusehen.

Sie befand sich in einem der kleinen Würfel, aus denen der große zusammengesetzt war, und man erkannte den Übergang von diesem zu anderen Würfeln wieder durch die dunklen Rillen, die sie schon oben gesehen hatte. Zwei Gänge führten in benachbarte, kleine Würfel, und die Rillen zogen sich einmal kreisrund um die Gänge. Zwei weitere Gänge endeten einfach in Sackgassen begrenzt durch die Außenwand eines der anderen kleinen Würfel. Sie wechselten in einen Würfel rechts von ihnen, indem sie sich an den Griffen entlang hangelten. Diese Art sich zu bewegen hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Tauchen, fand Myrie.

Zunächst dachte Myrie, dass nichts darauf hindeutete, wie der große Würfel derzeit verdreht war. Dann aber erkannte sie, dass ein kleines Modell des großen Würfels in der Mitte des kleinen Würfels in eine Vertiefung der Wand eingelassen war. Sie gab sich einen Impuls und bewegte sich zur Vertiefung. Ihre Intuition sagte ihr, wenn sie an diesem Würfel eine Ebene drehte, würde es auch im großen passieren.

“Theodil hast du was dagegen, wenn ich ausprobiere, ob wir unsere Ebene drehen können?”, fragte sie.

“Mach ruhig.”, sagte er und grinste.

Sie befanden sich immer noch in der oberen Ebene und Myrie wählte diese aus, um sie zu drehen. Sie kam nicht weit. Sie hatte recht gehabt, dass ihr Drehen am kleinen Würfel sich auf den großen übertrug, aber das bedeutete natürlich auch, dass sich die Ebene, in der sie sich befand, anfing zu drehen. Sie drehte das Modell von sich weg, der Griff, an dem sie sich reflexartig festhielt, zog an ihrem Arm und sie bekam mächtig Schwung. Weil sie das Modell loslassen musste, bremste ihre Ebene wieder, Myrie aber behielt ihren Impuls bei und wurde an die Wand geschleudert, stieß dort ab und flog ein Stückweit durch den Gang, bis sie wieder Halt fand. Theodil hatte sich gut festgehalten und grinste.

“Daina, Das ist sehr episch.”, sagte er leise.

Daina kicherte in sich hinein. Beim Aufprall war Myrie mit ihrem verletzten Arm gegen einen Griff geraten und hielt ihn fest.

“Ach herrje, hat das weh getan? Das sollte nicht passieren”, sagte Daina besorgt.

“Ich habe mich vorhin etwas am Arm verletzt. Geht schon wieder.”, sagte Myrie.

“Schütze die Stelle doch mit einem virtuellen Puffer. Theodil, magst du das machen?”, empfahl Daina.

Theodil schwebte auf sie zu und fing sich an den Griffen vor ihr ab. “Darf ich?”, fragte er gelassen.

Myrie hielt ihm den Arm hin.

“Zeig mir die Umrisse des Schnitts.”, bat Theodil. Es klang eher nach einer Frage, als nach einem Befehl.

Als Myrie mit dem Finger um die Stelle herumgefahren war, suchte Theodil aus einem Menü einen Puffer passender Form aus und legte ihn auf die Stelle, wo er haften blieb. Myrie spürte nichts davon auf ihrem Arm, aber sie sah den durchsichtigen Umriss des Puffers, der beinahe wie ein Gel aussah und als sie mit ihrem Finger dagegen fühlte, spürte sie weichen Widerstand.

Es war eine so einfache Sache, aber Myrie hatte so etwas einfach noch nie gebraucht.

“Danke.”, sagte sie.

“Kein Problem.”, sagte Theodil und lächelte.

Myrie stieß noch einmal testweise mit dem Arm gegen eine Wand und sie spürte nun nur noch am Rand des Puffers leichten Druck auf ihrer Haut, nicht mehr im Schnitt selbst. Dann wandte sie sich wieder dem Miniaturwürfel in der Mitte des Raums zu und drehte nach einer kurzen Vorwarnung an Theodil die Ebene zuende. Langsam dieses Mal, und mit drei Fingern einer Hand, während sie sich mit den Füßen und der anderen Hand zwischen Griffen einklemmte. Sie spürte immer noch, dass sie durch den Schwung nach außen gezogen wurde, aber sie flog nicht mehr unkontrolliert durch die Gegend. Es machte ihr Spaß.

“Es ist fantastisch.”, sagte sie.

Dann sah sie in die Ausgänge auf der Unterseite. Wo unten war, machte sie daran fest, wo sie hereingekommen war, und an der Ausrichtung des kleinen Würfels. Der Gang, der vorhin noch nach unten in den nächsten Würfel geführt hatte, war verschwunden und wurde stattdessen durch eine Wand zur Sackgasse.

“Du meine Güte.”, hauchte Myrie, als ihr das Ausmaß dessen bewusst wurde, was sie da als Rätsel vor sich hatte.

Es waren 5x5x5 kleine Würfel, alle mit Gängen. Mit Gängen, die sie nicht sehen konnte. Von denen sie durch Drehen der Ebenen Würfel, die sie nie gesehen hatte, so drehen konnte, dass sie ihre Nachbarwürfel wurden. Und es war vollkommen unübersichtlich. Myrie atmete schneller vor Aufregung, und lächelte. Sie sah zu Theodil hinüber, der auch lächelte und geduldig wartete. Dann machten sie sich auf, das Labyrinth zu erforschen.


Es dauerte den ganzen Tag und die halbe Nacht. Weder Theodil noch Myrie wollten zwischendurch eine Pause machen und obwohl Ahna nicht besonders erfreut darüber war, dass Myrie nicht einmal zum Essen erschien, brachte sie der Schwester welches, das Myrie aus der Hand essen konnte. Theodil kannte diese Probleme bereits, dass ein virtuelles Rätsel ihn so sehr in Anspruch nahm, dass er nicht zum Essen pausieren wollte, und hatte daher einen Vorrat greifbar in seinem Spielzimmer.

Der Morgen graute schon, als sie endlich schafften, das Labyrinth zu verlassen. Daina war ebenfalls die ganze Zeit wach und dabei geblieben und war stolz und glücklich, als Myrie und Theodil wieder in ihrem virtuellen Zimmer landeten.

“Besonders cool fand ich, dass man in manchen von diesen kleinen Würfeln mit zwei Gängen, die sich aber nicht kreuzten, durch die Vertiefung, in der der kleine Würfel steckte, den gegenüberliegenden Gang sehen konnte, aber ihn nicht betreten konnte.”, sagte Myrie begeistert.

Theodil nickte zustimmend.

“Freut mich, dass es euch gefallen hat.”, sagte Daina und gähnte ausgiebig, bevor sie sich nocheinmal an Myrie wandte. “Meinst du, es ist ein cooles Projekt, um es auf der Neujahrsfeier vorzustellen?”

“Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, aber ich fände es gut. Ich würde in so einen Vortrag gehen.”, antwortete Myrie.

“Aber du kennst ihn doch jetzt schon.”, sagte Daina verwundert.

“Erstens wird das sicher nicht die einzige Lösung sein, die wir gefunden haben. Ich würde durchaus gern nochmal eine zweite suchen, oder generell herausfinden, ob ich ein Prinzip finde. Zweitens nehme ich an, dass du nicht einfach diesen Würfel löst in deiner Präsentation, sondern vielleicht auch ein bisschen darüber erzählst, wie du das gemacht hast. Zumindest klang das aus den Anzeigetexten der anderen Vorträge so heraus, dass das üblich wäre.”, erklärte Myrie.

“Da hast du natürlich recht.”, überlegte Daina. “Also würdest du an dem Wochenende, obwohl es sogar ein langes Wochenende ist, in der Schule bleiben, obwohl du das noch nie gemacht hast, um dir meine Vorstellung anzusehen?”

Myrie nickte. Und damit war die Entscheidung gefällt.


Myrie war überrascht, dass sie überhaupt keine Angst davor hatte, über eine Dauer von 12 Tagen nicht zu Hause zu sein. Ihr machte mehr Sorge, was Ahna dazu sagen würde, oder ihr Papa. Für Letzteres gab es eigentlich keinen Grund. Er hatte es ja schon vorhergeahnt, dass es so kommen würde. Darin steckte ja bereits so etwas wie eine Erlaubnis. Ohne die Gewissheit, dass er einfach zustimmen würde, hätte sie in Gegenwart von Daina eine Unsicherheit eingeräumt.

Ihr Papa war auch niemand, der dann so etwas sagte, wie, dass er es doch gesagt habe. Aber vielleicht würde er traurig sein. Oder glücklich, weil es ihr in der Schule gut genug ging? Oder beides?

Es ließ ihr keine Ruhe. Sie verließ leise das Haus und spazierte in der dunklen, kalten Nacht die Glukka entlang, fühlte die feuchte Erde unter den Füßen, bis es allmählich steiler wurde. Da sie heute schon einmal abgerutscht war, es nun feucht war und sie sehr müde, kletterte sie zunächst nur ein Stückchen hinauf. Es befriedigte sie jedoch nicht. Die Aussicht war nicht die richtige. Es half nicht gegen ihr Gefühl, eingesperrt zu sein. Sie rang mit sich, ob sie trotz ihrer Müdigkeit weiter hinaufsteigen sollte, oder ob sie besser darauf verzichtete. Schließlich entschloss sie sich dafür, weil es wohl eine der letzten Nächte in diesem Jahr sein würde, in der es warm genug war, draußen zu nächtigen. Wer wusste schon, ob es in der darauffolgenden Woche noch ginge. Und dann kamen schon ihre 12 Tage, die sie in der Schule bleiben würde.

Sehr vorsichtig und ein bisschen zittrig vor Müdigkeit, setzte sie Sicherungshaken zwischen die Felsritzen und erklomm ein Plateau. Sie war diese Felswand schon unzählige Male auf verschiedene Weise heraufgeklettert und suchte sich die unkomplizierteste Weise aus, die sie bis jetzt herausgefunden hatte. Sie zitterte etwas vor Müdigkeit. Oben angelangt mummelte sie sich in ihren Schlafsack, rollte sich an den Rand der Felswand und sah ins Dorf hinunter. Alles war still. Nur wenige Lichter brannten in den Fenstern. Sogar ihre Brüder schliefen.

Ein leichter, kalter Wind wehte ihr um die Nase und brachte den Geruch von Tannen mit. Bevor sie einschlief, rollte sie sich wieder von der Kante weg.


Sie schlief lange. Als sie erwachte, schien die Sonne hell. Vögel kreisten hoch am Himmel unter kleinen Wölkchen. Es war angenehm kalt. Myrie befreite sich aus ihrem Schlafsack und musste feststellen, dass sie sich gestern ungewöhnlich bewegt hatte. Sie hatte nicht direkt Muskelkater, aber sie spürte einige Muskeln im Hüftbereich und im Schulterbereich, die sie sonst nicht so sehr wahrnahm. Das kam wohl durch die Bewegung an Griffen entlang in der Schwerelosigkeit. Und dem Festhalten gegen die Fliehkraft im Würfel. Besonders, wenn sie sich in äußeren Würfeln befunden hatten, und ihre Ebene gedreht hatten, hatte sie immer arg an ihr gezerrt. Theodil hatte immer einfach an der äußeren Wand geklebt, wenn sie gedreht hatte. Erst gegen Abend hatte er vorgeschlagen, sie könne auch die anderen vier Ebenen drehen, statt ihre eigene. Es war eine einfache Idee gewesen, aber Myrie war zu sehr mit dem eigentlichen Rätsel beschäftigt gewesen, um daran zu denken.

Sie wärmte sich auf, und merkte, wie müde ihre Glieder waren. Dann packte sie ihren Schlafsack vorsichtig ein und seilte sich sehr gemächlich ab, strich dabei mit den Händen über die rissige, teils von Gestrüpp überwachsene Felswand, oder über die Blätter am Gestrüpp. Dann spazierte sie zurück nach Hause. Sie steckte dabei ab und zu ihre Füße in die Glukka und beobachtete die Fische, wie sie gegen den Strom schwammen und immer an der gleichen Stelle verharrten, bevor sie die Position in einem einzigen Moment wechselten. Wie Schwebfliegen, dachte Myrie. Die Bewegungen der Fische und des klaren Wassers entspannte sie.

Als sie das geliebte Haus durch die Vordertür betrat, war ihr etwas traurig zumute. Sie wusste nicht genau, warum. Ahna hopste ihr entgegen.

“Myrie ist da, wir können essen!”, rief sie durchs Haus.

Sie umarmte Myrie kurz und war schon halb auf dem Weg in die Küche, als sie sich noch einmal umdrehte.

“Ist was passiert? Du wirkst niedergeschlagen.”, fragte sie.

Myrie schüttelte den Kopf und lächelte. “Vielleicht bin ich einfach müde. Ich bin nicht sicher.”, sagte sie.

Sie half Ahna beim Decken des Tisches. Heute aßen sie mal wieder mit der ganzen Familie gemeinsam.

“Also in zwei Wochen ist eine Neujahrsfeier in meiner Schule.”, sagte Myrie, als sie alle saßen, ohne Umschweife. “Da würde ich gern bei sein.”

“Ui, das ging schnell.”, sagte Nori.

Minke grinste ihn vielsagend an.

“Bleibst du dann das ganze lange Wochenende weg, oder fährst du einfach einen Tag früher zur Schule?”, fragte Ahna.

“Es geht mir eigentlich viel mehr um den Morntag. Daina wird eine Präsentation halten, die ich mir ansehen möchte.”, sagte Myrie.

“Diese Daina scheint eine beeindruckende Person zu sein.”, stellte Ahna fest.

Sie versteckte, das sie traurig war, merkte Myrie. Sie sah zu ihrem Papa hinüber, dem ein sanftes Lächeln um den Mund spielte. Er sagte aber nichts.

“Papa, was denkst du dazu? Darf ich das Wochenende über in der Schule bleiben?”, fragte Myrie ungeduldig.

“Klar darfst du.”, antwortete er und beantwortete damit nur die zweite Frage. Allerdings wirkte er nachdenklich, als wäre er noch nicht fertig.

“Was stellt Daina denn vor?”, fragte Minke.

Myrie antwortete noch nicht. Sie schaute stattdessen ihren Papa erwartungsvoll an, der schließlich den Kopf hob und seinen Blick auf sie richtete. “Das kann man nicht so in einem Satz zusammenfassen.”, sagte er. “Ich freue mich, dass du in dieser Schule etwas gefunden hast, was dir gut tut. Ich freue mich, dass du Kontakt zu anderen gefunden hast. Ich finde es nicht wichtig, dass du viele gleichaltrige Kontakte hast. Ich habe nur den Eindruck, dass diese, die du da gerade findest dir etwas geben. Du wirkst, als würdest du Einblicke in neue Welten bekommen, die dir gefallen. Das finde ich gut.”

Myrie nickte langsam. Dann erzählte sie Minke vom Würfelrätsel.


Im Zug schlief Myrie. Sie hatte sich dazu auf den weichen Sitzen in ihrer Kapsel zusammengerollt und fand es sehr gemütlich. Als sie den Finsterwald erreichten, ließ ihre Müdigkeit nach und eh sie in der Nacht nicht schlafen könnte, öffnete sie die Augen. Ihr gegenüber saß Olge und beobachtete sie. Myrie setzte sich sofort aufrecht in einen Schneidersitz.

“Wie lange bist du schon da?”, fragte sie.

“Eine Weile.”, antwortete Olge schnippisch. “Ich denke, wenn du mich beim Ausruhen in Pausen beobachten darfst, dann darf ich das im Zug.”

Myrie nickte langsam. Warum auch nicht.

“Training?”, fragte Olge.

Myrie sah sich um und befand, dass das Abteil viel zu klein sein müsste. Aber Olge würde sicher eine Idee haben, wie das gehen sollte, wenn sie schon fragte. Myrie runzelte die Stirn.

“Nur Griffe, keine Würfe.”, sagte Olge.

“Einverstanden.”, sagte Myrie.

Sie stellten sich gegenüber auf, Olge griff ihr Handgelenk und verdrehte es wie selbstverständlich in einer Weise, die Myrie in die Knie zwang, weil sie dem Schmerz ausweichen musste und ihre Gliedmaßen des entsprechenden Arms in einem unpassenden Winkel zueinander standen.

Olge zeigte ihr vier verschiedene solcher Verdrehungen. Dann durfte Myrie sie bei Olge umsetzen. Olge korrigierte, was es zu korrigieren gab mit ihrer jeweils freien Hand und sie übten die Griffe, bis sie Routine waren und Myrie nicht mehr nachdenken musste, um sie durchzuführen. Dann erklärte Olge, in welchem Angriffsszenario, welcher von diesen Griffen als Verteidigung geeignet war. Sie erklärte es mit vielen Gesten und wenigen Worten. Einer der Griffe war sogar auch für einen Angriff geeignet. Aber Myrie übte derzeit nur Verteidigung. Die übrige Zeit der Zugfahrt griff Olge Myrie ohne Unterbrechungen an, Myrie musste den richtigen Griff auswählen und sobald sie ihn durchgeführt hatte und Olge wieder frei war, griff sie ohne Umschweife wieder an. Myrie fehlte die Zeit zu denken. Es war sehr stressig für ihren Geist, aber die Methode wirkte. Als sie am Ehrenberg-Internat ankamen, reagierte sie schon fast immer richtig, – und sie war völlig aus der Puste, weil sie vor Anspannung das Atmen vergessen hatte.

Auf dem Bahnsteig nickte Olge Myrie noch einmal anerkennend zu, dann verschwand sie im Treppenhaus. Myrie rannte hinterher, plötzlich den Ehrgeiz verspürend, zeitgleich mit Olge oben anzukommen. Aber sie schaffte es nicht. Stattdessen musste sie nach einem Drittel Aufstieg mit starkem Seitenstechen pausieren. Sie seufzte und nahm den Rest der Treppen weniger eilig in Angriff.

Sie duschte, bevor sie ihr Zimmer betrat. Sie betrat es leise. Hermen lag mit Kopfhörern und VR-Brille auf der Nase im Bett. Vielleicht sah er sich etwas an, aber vielleicht war er darüber auch schon eingeschlafen. Auch Sarina hatte die Augen geschlossen und sah aus, wie immer. Merlin dagegen lag nicht im Bett. Er saß auf einem Hocker vor seiner Musikanlage, Kopfhörer auf den Ohren, und wirkte etwas niedergeschlagen, während er seinen Körper rhythmisch wiegte, Tasten drückte und Regler drehte. Myrie ging langsam auf ihn zu, um ihn nicht zu erschrecken, und hockte sich neben ihn. Er ließ sich nicht sofort aus der Ruhe bringen, fand aber einen Abschnitt, schob sich die Kopfhörer in den Nacken und schaute auf.

“Du siehst traurig aus.”, sagte Myrie leise.

“Nicht traurig. Nur etwas niedergeschlagen. Fadja hat eine Erkältung und wir haben uns seit zwei Tagen nicht gesehen. Ich mache mir etwas Sorgen.”, sagte er ebenso leise.

“Ich würde dir gern etwas zeigen. Magst du mitkommen?”, fragte Myrie.

Es war ihr eingefallen, als sie Merlin dort an seinem Musikinstrument hatte sitzen sehen.

“Jetzt?”, fragte Merlin zögerlich.

“Du kannst mich auch wann anders dran erinnern. Ich wollte es schon vor einer ganzen Weile, aber ich habe es aus den Augen verloren.”, murmelte sie.

Merlin aber streifte die Kopfhörer ganz ab, gab der Musikanlage ein Zeichen, worauf sie sich abschaltete, und nickte. Myrie führte ihn durch das ausgestorbene Nebentreppenhaus ins obere Stockwerk zum geräumigen Klassenraum mit dem Flügel. Die Tür war dieses mal verschlossen, aber öffnete sich durch eine Geste. Myrie hielt sie für Merlin auf, doch er schaute bloß hinein und bewegte sich nicht. Ein sehr entrückter Ausdruck trat in sein Gesicht und Myrie spürte, dass er nicht mehr in der selben Welt wie sie zu sein schien. So musste es aussehen, wenn sie nicht ansprechbar war, weil sie über etwas nachdachte, oder etwas genau beobachten oder untersuchen musste. Sie lächelte. Merlin trat beinahe feierlich in den Raum, bewegte sich langsam auf das Instrument in der Mitte zu. Myrie schloss die Tür leise hinter sich und setzte sich ein Stückweit vom Instrument entfernt auf den Fußboden. Sie hatte überlegt, ob sie Merlin allein lassen sollte, aber sie wollte es einfach nicht. Sie wollte erfahren, was nun passierte.

Merlin strich zärtlich über die große Klappe des Instruments, während er sich zur Klappe bewegte, mit der die Tasten zugedeckt waren. Er ging ehrfürchtig und mit durchgestrecktem Rücken, leicht gesenktem Kopf. Er rückte den Hocker zurecht. Er probierte nicht erst mehrere Stellungen aus, oder war wuschig dabei, sondern er zog ihn sachte in die Position, in der er ihm sinnvoll platziert vorkam und setzte sich darauf. Bevor er die Klappe zu den Tasten öffnete, streichelte er auch mit beiden Händen von innen nach außen über diese. Nicht mit den ganzen Händen, sondern nur mit seinen langen Fingern. Dann klappte er so sachte den Deckel zu den Tasten auf, dass es kein Geräusch erzeugte. Er zögerte, bevor er die Tasten berührte, dachte zunächst nach. Dann aber verteilte er seine Finger gezielt auf den Tasten, schloss die Augen und drückte eine der Taste mit dem kleinen Finger der linken Hand. Ein einzelner Ton erklang im Raum.

“Sollten wir nachts keine Musik machen?”, fragte Myrie Omantra in Gebärdensprache.

“Der Raum, in dem ihr euch befindet, ist genügend schalldicht, wie die meisten Räume in der Schule. Ihr könnt musizieren.”, sagte Omantra leise in ihrem Ohr.

Myrie konzentrierte sich wieder auf die Szene, in der sie sich befand. Merlin hatte verharrt und sich den Ton angehört. Nun schlug er mit dem Zeigefinger der linken Hand einen zweiten an und kurze Zeit darauf mit dem Daumen einen dritten. Ein schöner, harmonischer Klang dieser drei Töne schwang im Raum, etwas melancholisch. Dann öffnete er die Augen und nutzte die rechte Hand um den Klang mit drei weiteren höheren Tönen fortzusetzen. Er fing unten wieder an und wurde schneller, eine wellenförmige Musik erklang. Dabei bewegte er sich aus der Hüfte heraus immer von den tiefen zu den hohen Tönen und seine Finger machten ebenfalls eine Wellenbewegung. Er sah immer die Stellen auf der Tastatur an, an die seine Finger als nächstes springen würden, und sein Gesicht wirkte konzentriert und spannender Weise gleichzeitig melancholisch und glücklich. Als würde er voll Liebe an eine Person denken, die er vermisste, vielleicht.

Myrie gab während Merlins Konzert keinen Ton von sich, atmete sehr ruhig, weil sie den Eindruck hatte, selbst ihr Atem wäre zu laut. Merlin wurde, während er spielte immer mutiger, spielte immer lauter. Myrie stressten laute Geräusche normalerweise, aber dies hier war anders. Sie hätte es sich stundenlang anhören können, und sie war froh, dass sie im Zug geschlafen hatte, denn Merlin spielte tatsächlich über eine Stunde.

Irgendwann ließ er den letzten Ton verklingen, blieb noch einen Augenblick sitzen, während er die Klappe wieder schloss und in ihre Welt zurückkehrte. Er wirkte viel entspannter, als bevor er diese andere Welt betreten hatte. Er stand auf und drehte sich zu Myrie um.

“Danke.”, sagte er schlicht.

Sie gingen schweigend gemeinsam zurück zu ihrem Schlafraum. Die Nacht war sehr kurz für Myrie, aber durch das Schlafen im Zug, war sie dennoch fit, als sie sich mit Olge vor der Schule zum morgendlichen Training traf.


Die kommenden zwei Wochen wichen etwas von Myries gefundener Routine ab. Daina sagte die Schatzvulkanetappe für Mandostag ab. Stattdessen probierte sie mit Gafur, Theodil, Myrie und sogar Merlin zusammen verschiedene Sonderfälle in ihrem Labyrinth aus und fragte sie, ob ihnen irgendwelche außerordentlichen Szenarien des Drehens und Bewegens einfielen, die sie noch nicht getestet hätte und die etwas Unerwartetes hervorrufen könnten. Myrie schlug vor, jemand könne eine der beiden mittleren vertikalen Ebenen drehen, während jemand sich im Eingang befände. Was passierte, war, dass Gafur, der sich dafür bereit erklärt hatte, aus dem Eingang herausgeschleudert wurde, und weil dieser nicht mehr oben war, ins nichts fiel. Er respawnte leider auf dem Rand, wo nun das Loch war und fiel einfach wieder hinab, bis er in einer der Wiederholungen schnell genug war, den Rand des Eingangs zu erreichen und sich festhalten konnte. Daina überlegte eine Weile, wie sie das Problem geschickt lösen könnte. Zunächst überlegte sie, dass man einfach immer oben auf dem Würfel respawnen würde, selbst wenn der Eingang dort nicht wäre. Allerdings könnte man dann nicht weiterspielen, es sei denn, es gäbe auch eine Möglichkeit von außen die Ebenen zu drehen.

Schließlich entschied sie sich für eine andere Möglichkeit, in der einfach der Eingang immer oben bliebe und ein Drehen einer mittleren vertikalen Ebene dazu führte, dass sich eigentlich die anderen vier darum herum stattdessen drehten. Es war ja relativ.

Sie kehrten zurück in Dainas Zimmer, in dem sie zu programmieren begann, was sie sich gerade überlegt hatte.

“Ihr könnt ruhig gehen. Das wird eine Weile dauern.”, sagte sie.

“Ich hätte da noch eine Frage.”, fiel Merlin ein.

Daina sah auf. Sie wirkte müde, fand Myrie.

“Hast du schon einen Namen für deinen Würfel?”, fragte Merlin.

“Oh.”, machte Daina.

Sie hörte auf im Code herumzunavigieren und viele neue Textfenster quer über die Wand zu verteilen. Sie dachte anscheinend angestrengt nach.

“Dainas Würfel?”, schlug Gafur vor.

Daina schüttelte den Kopf.

“Eher Dietrichwürfel. Nach meinem Nachnamen, aber auch das nicht.”, sagte sie. Ihr Gesicht wirkte verkrampft, bis sie den Kopf rasch schüttelte wie ein Hund, der nass geworden war. “Wenn jemand von euch einen Vorschlag hat, oder einen Ork kennt, sagt mir Bescheid. Ich denke, ich löse erst einmal dieses Problem mit der Schwerkraft. Aber du hast recht Merlin, für die Präsentation brauche ich einen Namen!”, sagte sie und wandte sich wieder den vielen verteilten Codestücken an der Wand über ihrem Schreibtisch zu.

“Ich kenne einen Ork.”, sagte Myrie.

Daina drehte sich wieder zu ihr um.

“Würdest du mich mit dem Ork bekannt machen?”, bat Daina.

“Also, ich kann es versuchen.”, überlegte Myrie. “Sie ist nicht so gesprächig.”

“Interessant. Woher kennst du sie?”, fragte Daina.

“Olge vom Wandern.”, antwortete Myrie.

“Oha. Olge ist schon ziemlich cool. Ich hatte bisher immer Angst vor ihr.”, gab Daina zu.

Myrie konnte sich kaum vorstellen, dass Daina vor irgendetwas oder irgendjemandem Angst hatte. Zumindest war Angst etwas, was sie bei Daina noch nie beobachtet hatte.

“Warum fragst du, ob jemand von uns einen Ork kenne?”, fragte Myrie.

“Weil ein Ork mir wahrscheinlich bei der Namensfindung helfen kann.”, gab Daina zurück.

Myrie verwirrte das. Sie hatte keine Ahnung, warum ein Ork da hilfreicher sein könnte, als irgendwer sonst. Aber da Daina schon wieder etwas ungehalten und gestresst wirkte, fragte sie nicht direkt nach.

“Ich treffe sie jeden Morgen eine Stunde vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulgelände. Ich erfahre etwa eine Viertelstunde vorher, wo. Ich kann dir die Information dann weiterleiten und ich denke, es wäre in Ordnung, wenn du kurz vorbeikämst.”, sagte Myrie.

“Danke.”, sagte Daina nur und widmete sich nun endgültig der Wand vor ihrem Schreibtisch.


Es war noch früh am Abend und Merlin beschloss ein Experiment zu machen, bei dem er zu aufgenommener Musik aus seiner Musikanlage den Flügel spielte. Myrie war neugierig und Merlin erlaubte ihr, mitzukommen und zuzuhören. Sie mussten ein wenig warten, weil der Raum mit dem Flügel noch besetzt war, und sie unterhielten sich in der Wartezeit darüber, welche Vorträge und Präsentationen sie sich ausgewählt hatten. Sie saßen in vier Vorträgen zusammen und Myrie hatte insgesamt nur sechs gewählt. Sie beschlossen, in den Vortragshallen nebeneinander zu sitzen und Myrie freute sich.


Für das Training am nächsten Morgen wählte Olge einen Platz hinter einem der Gewächshäuser direkt am Gitter, dass das Schulgelände abgrenzte. Daina traf kurz nach Myrie ein, als sie das Training noch nicht einmal begonnen hatten.

“Jemand Neues schaut zu.”, kommentierte Olge missmutig, überlegte kurz und sah dann Myrie fragend an. “Hast du ihr gesagt, dass wir hier sind?”

Myrie nickte.

“Willst du was von mir?”, wandte sich Olge an Daina.

“Ja, in der Tat. Ich habe eine Virtualität kreiert, die einen Namen braucht. Ich wollte dich fragen, ob du eine Idee hast.”, bat Daina.

Sie wirkte tatsächlich ängstlich. Myrie fragte sich, ob das vor allem daran lag, dass Olge etwa doppelt so groß war, wie der Lobbud. Beim Schatzvulkan Spielen machten Daina allerdings Angreifende dieser Größe nichts aus. Vielleicht lag es auch an Olges Art. Sie war immer etwas harsch. Aber das war Daina auch ab und zu. Myrie beobachtete genau, wie sich diese Ängstlichkeit bei Daina äußerte. Es waren vor allem die Körperhaltung und die Stimme, die nicht so selbstsicher waren, wie sonst.

“Gummistock?”, fragte Olge.

“Gummistock?”, wiederholte Daina verwirrt.

“Ja, nenn die Virtualität Gummistock.”, schlug Olge vor.

“Du kennst die Virtualität doch noch gar nicht.”, gab Daina zurück. Es war ein Satz von der Art, wie sie ihn normalerweise sehr forsch sagte, aber es klappte hier nicht.

“Korrekt.”, sagte Olge, wandte sich Myrie zu und nickte auffordernd.

Myrie nahm eine stabile Körperhaltung ein, die federnd in den Knien war, wie Olge es ihr beigebracht hatte. Olge ging um Myrie herum und korrigierte das ein oder andere. Daina zog überrascht die Luft ein.

“Ich tu ihr nichts.”, sagte Olge beschwichtigend. “Ich nehme an, es geht darum, dass ich Ork bin. Hast du Myrie eigentlich gefragt?”

Daina schüttelte den Kopf und gab außerdem ein Geräusch von sich, das Ablehnung bedeutete, aber auch etwas kleinlaut oder beschämt klang, glaubte Myrie.

Es war ein seltsames Gefühl, dass Olge sich mit ihr beschäftigte, während sie mit Daina über sie sprach. Es lenkte sie ab, sodass sie die eigentliche Frage erst einen Moment später tatsächlich interpretierte. Die Frage fühlte sich gleichzeitig richtig und falsch an.

“Ich kann dir die Virtualität gern zeigen!”, rief Daina.

Olge ließ sich nicht von der Haltungskorrektur ablenken und sah auch nicht auf.

“So?”, fragte sie langgezogen und richtete sich wundersamerweise an Daina ohne sie anzusehen.

“Ja. Also wenn du magst.”, antwortete Daina.

Myrie fand das Gespräch sehr seltsam und es lenkte sie außerdem stark davon ab, ihre Haltung so zu lassen, wie Olge sie korrigiert hatte. Olge merkte es, aber sie korrigierte einfach erneut, ohne einen Kommentar dazu zu machen, oder sauer zu werden. Dann, als sie vorläufig zufrieden mit Myries Haltung war, wandte sie sich noch einmal zu Daina um.

“Ich kann mir deine Virtualität in der Pause kurz anschauen. Erwarte aber nicht, dass ich Wortspiele mag, nur weil ich ein Ork bin. Und wenn du schon Vorurteile für solche Entscheidungen nutzt, dann frag auch Myrie.”, sagte Olge.

Die Verwirrung, die Myrie seit Dainas Anliegen, einen Ork zu fragen, gefühlt hatte, löste sich in Unbehagen auf. Daina suchte ein Wortspiel als Namen für ihren Würfel, und hoffte, dass ihr ein Ork helfen könne, weil Orks angeblich gut in so etwas wären. Diese entscheidende letzte Information war ihr bisher nicht bewusst gewesen.

Myrie fragte sich, ob sie auch gern Wortspiele mochte. Eigentlich schon, immerhin fühlte sie sich mit der Bezeichnung Zworg auch deshalb sehr wohl. Und dennoch: Ihre Mutter war Ork, aber sie fühlte sich trotzdem unbehaglich, dass davon darauf geschlossen werden würde oder könnte, dass sie Wortspiele möge.

Einen kurzen Moment fühlte sich Myrie, als müsste sie weinen, aber stattdessen verhakte sich nur ihr Atem. Sie wusste nicht, ob es daran lag, dass Olge eine Ungerechtigkeit ausgesprochen hatte, die sie auch gefühlt hatte. Eine, in der ihr abgesprochen wurde, dass sie auch anteilig Ork war, die noch unter dem Vorurteil verborgen war, das sie zuerst verstört hatte. Oder ob sie einfach nur selten erlebt hatte, dass sich eine Person für sie einsetzte, und sie das immer etwas überwältigte. Sie überlegte, ob sie reagieren sollte, aber stattdessen verharrte sie in ihrer Haltung und fokussierte sich für ein paar Atemzüge auf ihren Atem. Sie hätte ohnehin nicht gewusst was, oder ob sie etwas hätte sagen können.

“In Ordnung.”, sagte Daina.

“Direkt zu Beginn eurer Pause beim Eingang der großen Spielhalle.”, verabredete Olge und ohne Vorwarnung und ohne sie wirklich dazu anzusehen, griff Olge Myrie an.

Myrie war nicht vorbereitet aber ihr Körper reagierte reflexartig richtig. Es dauerte trotzdem nur wenige Augenblicke, bis sie auf dem Rücken lag. Olge lächelte.

Daina sah die ganze Trainingseinheit über aus einiger Entfernung staunend zu. Auch Hermen tauchte auf, aber zu Myries Überraschung sagte er dieses Mal keinen Ton.


“Ich wusste nicht, dass du Orkando trainierst.”, sagte Daina, als sie nach ihrem Training gemeinsam zum Erdkundeunterricht aufbrachen.

“Orkando?”, fragte Myrie. “Heißt das so, was ich da mache?”

Daina schmunzelte. “Du trainierst Orkando und weißt es nicht, das ist witzig.”, sagte sie. “Orkando ist eine Sammlung von orkischen Kampfsportarten, hauptsächlich waffenlosen, aber ein paar mit Stöcken sind auch dabei. Orks waren immer ein kämpferisches Volk und ihre Kampfkünste waren lange viel ausgereifter, als die aller anderen Völker. Allerdings haben sie sie sehr lange nicht benannt oder überhaupt in einzelne Kategorien sortiert. Als dann irgendwann vor etwa ein bis zwei Jahrhunderten, denke ich, Kampfkünste zu so einer Art Modesportart wurden, und es unter den nicht-Orks eben Kategorien gab, nannten Orks ihre Kampfkünste einfach gesammelt Orkando. Es ist ein zusammengezogenes Wort aus Ork, Orkan und dem Niederelbischen Orc can do.”

Myrie grinste.

“Guter Name.”, sagte sie.

“Orks sind eben gut mit solchen Namen.”, sagte Daina.

“Alle Orks?”, fragte Myrie skeptisch.

“Vielleicht nicht.”, seufzte Daina.

“Ich würde ja Merlin fragen. Er mag Wortspiele.”, legte Myrie nahe, erinnerte sich dann, dass sie das von Merlin allerdings nur gehört und noch nicht erlebt hatte und fügte unsicher hinzu: “Oder vielleicht den Zwelben.”

“Der Zwelb heißt übrigens Undra.”, sagte Daina.

“Danke. Namen finde ich schwierig.”, sagte Myrie und versuchte es sich zu merken. Der Zwelb, Undra.

“Du kannst mich gern immer nach Namen fragen. Ich bin gut darin, aber weiß, dass andere das nicht sind.”, bot Daina an.

“Danke.”, sagte Myrie wieder.

“Ich frage Merlin, wenn Olge keinen Vorschlag hat.”, sagte Daina.


Myrie wusste am Ende nicht, wer von beiden den Vorschlag gemacht hatte, aber er gefiel ihr: Daina nannte ihre Virtualität den Wirrfel. Olge fand den Wirrfel ganz gut, wollte ihn aber nicht von anderen beobachtet lösen. Daina gab ihr die Möglichkeit, die Virtualität zu Hause und ganz für sich zu betreten und Myrie erfuhr nicht, ob Olge sie je tatsächlich in Angriff nahm.

Am letzten Wochenende vor dem Neujahrswochenende verbrachte Myrie wenig Zeit im Gebirge. Daina hielt Teile ihrer Präsentation zur Probe und bat Myrie zuzuhören. Hinzu kam, dass sie sehr lange wenig Zeit mit Ahna verbracht hatte und dies nun auch mal wieder dran war.

Obwohl sie sich auf die Veranstaltung an Neujahr freute, freute sie sich jetzt schon viel mehr auf das Wochenende danach, an dem sie endlich wieder Zeit für sich haben würde.


Auch in der darauffolgenden Woche ließ Daina das Schatzvulkan Spielen ausfallen. Sie versprach es in der dann darauf folgenden Woche wieder aufzunehmen. Bis Antag, drei Tage vor ihrem Vortrag, war Daina stets hibbelig und aufgeregt und bat dauernd Myrie oder Merlin darum, ihre Meinung zu äußern, ob sie etwas lieber so oder anders vorstellen sollte. Dann ließ es nach. Daina ging gerader durch die Schule, und war recht stolz auf sich und ihr Vorhaben. Myrie lächelte immer, wenn sie es bemerkte.

Der Glotag war seltsam und anstrengend, fand Myrie. Sie fand sich mit Merlin, Hermen und Daina in der großen Halle ein, um sich für Aufbauarbeiten Aufgaben zuweisen zu lassen. Die Anweisungen waren allerdings wenig konkret und das überforderte Myrie. Sie war sich sehr unsicher, ob, was sie tat, sinnvoll wäre, und kam eher zu dem Schluss, dass sie keine Hilfe war. Schließlich fand sie eine Aufgabe, in der sie sich nicht ganz so verloren fühlte, und zumindest den Eindruck gewann, sollte diese Festlichkeit sich noch ein oder zweimal wiederholen, könnte sie vielleicht ihre jetzigen Erfahrungen einbringen und dann tatsächlich helfen: Es mussten allerlei Scheinwerfer, Kameras, Funkstationen und Projektoren an die Decke und hoch an die Wände montiert werden. Zu diesem Zweck wurden hohe Leitern, virtuelle Gerüste und Drohnen genutzt. Myrie half einem Ork, der schon etwas länger dabei war, und den Aufbau anscheinend jedes Jahr auf die gleiche Art unterstützte, indem sie ihm Gegenstände bereithielt und reichte, wenn er sie brauchte. Allerdings erst nachdem er mehrfach spezifizieren musste, welcher dran wäre und wie sie es tun sollte.


Morntag war sie schon früh wach und sehr aufgeregt. Da Olge schon am Lantag nach Hause gefahren war und nun der zweite Tag in der Schule ohne morgendliches Training war, ging Myrie allein vor die Schule und übte Stellungen, Fallen, und so gut es ging, Griffe an sich selbst. Dann traf sie sich mit Merlin, um in ihre erste Präsentation zu gehen. Die zweite war schon Dainas und Myrie und Merlin blieben einfach im Raum sitzen. Während ihres dritten Vortrags begannen die Kopfschmerzen und nach dem vierten konnte sie nicht mehr denken, brach die Besuche bei den Veranstaltungen ab und übergab sich mehrfach auf der Toilette.

In der ganzen Schule herrschte schummriges Licht. Auch die Klassenräume waren umgestaltet zu gemütlichen Räumen mit Sofas, in denen Gruppen beisammen waren, die sich zu gemeinsamen Themen gefunden hatten. Diese Themen waren oft lern- oder forschungsorientiert, aber es gab auch schlicht das Thema Tee trinken oder lesen. Auch die Gänge waren dekoriert. Es war überall viel Betrieb, aber er war nicht so hektisch, wie wenn zwischen verschiedenen Unterrichtsstunden die Lernenden Räume wechselten.

Myrie probierte gar nicht erst, einen Überblick darüber zu gewinnen. Es wäre selbst ohne Kopfschmerzen aussichtslos gewesen. Stattdessen schlängelte sie sich, so gut es ging, zwischen all den Leuten durch die Flure in ihr Zimmer, verzog sich bei offenem Fenster ins Bett und hoffte darauf, dass es endlich dunkel würde. Glücklicherweise war niemand anderes hier, der sich über die Kälte hätte beschweren können.

Es war wie bei ihrer ersten Nacht, die sie im Wald verbracht hatte. Myrie wälzte sich hin und her, konnte keinen klaren Gedanken fassen, dachte die ganze Zeit, sie müsse irgendetwas tun oder sie hätte etwas vergessen. Und die ganze Zeit pulsierte ein Schmerz in ihren Schläfen und in ihren Augen. Irgendwann tauchte Merlin auf. Sie nahm es wahr wie durch einen Nebel und hinterher war die Erinnerung daran wie die an einen Traum. Er brachte ihr etwas zu trinken und ein Medikament, das sie zu sich nahm, auch wenn die Kopfschmerzen beim Trinken viel schlimmer wurden, weil sie sich bewegte. Irgendwann mitten in der Nacht wurde es besser. Sie stand auf und stieg aus dem Fenster um einen Nachtspaziergang zu machen. Auch Sarina lag wach. Sie hatte beobachtet, wie Myrie das Zimmer durchs Fenster verließ und sah auch aufmerksam zu, als Myrie das Zimmer wieder durch das Fenster betrat.


Der nächste Tag war nicht so schlimm. Zunächst schlief sie lange und sehr entspannt. Dann ließ sie auch das erste Theaterstück ausfallen, aus Angst, es könnte ihr so gehen, wie am Vortag, und machte stattdessen einen Spaziergang auf dem Schulgelände. Zum zweiten Theaterstück traf sie sich mit Merlin. Myrie fand es nicht sonderlich ansprechend, aber Ahna hätte es sicher gemocht. Es war eine Liebesgeschichte zwischen einem Elb und einem Zwerg, die aus Gründen, die Myrie nicht verstand, im Theaterstück verboten war oder sich nicht gehörte.

Allerdings begeisterte sie die Umsetzung. Sie mussten ihre VR-Brillen tragen. Die Kulisse und Kostüme waren hineinmodelliert. Zwischendurch linste Myrie immer wieder unter der Brille hindurch, um zu sehen, wie die Schauspielenden wirklich aussahen. Zu ihrer Überraschung kannte sie eine der darstellenden Personen, nämlich Undra, den Zwelben. Sie spielte einen Menschen.

Dieses Theaterstück zu sehen hatte große Ähnlichkeiten damit, einfach einen Film zu sehen, war aber auch nicht das Gleiche. Gab es einen Szenenwechsel, zu dem die Schauspielenden die Orte wechseln mussten, oder die gerade dargestellten Personen sich änderten, so gab es kurze Pausen, in denen nichts zu sehen war. Aus diesem Grund waren die Szenen deutlich länger, als sie es in Filmen meistens waren.

Im Anschluss an das Theaterstück gab es ein Akustisches Konzert. Myrie fragte Merlin warum es Akustisch hieße. Merlin räumte ein, dass die Bezeichnung irreführend sei, und damit gemeint sei, dass alle Klänge rein mechanisch und eben nicht elektrisch erzeugt wurden. Der ganze Raum war von Musik erfüllt und es war ein wunderschönes Erlebnis, fand Myrie. Sie schloss dabei die Augen, damit diese entspannen konnten und um sich nur auf die Musik zu konzentrieren.


Als die Vorstellungen beendet wurden, war Myrie sehr müde und etwas verspannt. Trotzdem folgte sie Merlin ins Freie, wo das EM-Lichterspiel stattfinden würde. Lernende und Lehrkräfte hatten sich weit über dem Gelände verteilt. Es war keine dicht gedrängte Masse von Leuten, aber Myrie war sie trotzdem eigentlich zu eng. Sie schlug einen Ort dicht am Hintereingang zu ihrem Treppenhaus vor und Merlin hatte keine Einwände. Dort standen sie und warteten, bis es losging.

“Beeindruckendes Schulgebäude habt ihr.”, sagte eine Stimme, die Myrie nur zu gut kannte.

Sie drehte sich zu ihrem Papa um und umarmte ihn. Ahna stand hinter ihm und sie umarmte auch sie. Dann umarmte sie wieder ihren Papa und dann hopste sie auf und ab.

“Wir dachten, wir kommen dich Neujahr besuchen, wenn du schon nicht zu hause bist.”, erklärte ihr Papa. “Minke und Nori stromern auf irgendeinem Spieltreff im Gebäude herum.”

Myrie sah sich zu Merlin um, der geduldig wartete und ihnen bei der Begrüßung zuschaute. Sie wollte ihm ihren Papa vorstellen und umgekehrt, aber sie brauchte eine ganze Weile, bis sie eine Idee hatte, wie sie das anstellen sollte. Vielleicht lag es vorwiegend daran, dass ihr die Stimme versagte und sie warten musste, bis sie wieder fähig war, etwas zu sagen.

“Das ist Merlin, das ist Ahna und das ist Papa.”, sagte sie und deutete reihum auf die benannten Personen.

“Hallo Papa!”, sagte Merlin an Vadime gerichtet.

Myrie griff sich mit den Händen ins Gesicht. Das hatte sie wohl falsch gemacht.

“Vadime. Falls dir das lieber ist, als Papa.”, sagte ihr Papa lächelnd und verbeugte sich knapp vor Merlin. Merlin lächelte Ahna zu, aber sie blieb still und wirkte verlegen.

“Du bist ein Schulherzwesen von Myrie nehme ich an?”, erkundigte sich Vadime.

Myrie wirkte zögernd. Konnte man sich schon gegenseitig Herzwesen nennen? Wo war da die Grenze?

“Ja.”, bestätigte Merlin schlicht und nahm ihr ab, das zu entscheiden.

Wobei, gab es einen Unterschied zwischen Herzwesen und Schulherzwesen? Nun, Merlin und ihr Papa würden sich da hoffentlich besser verstehen, als sie die Konzepte begriff.

“Du bist jederzeit herzlich eingeladen, wenn Myrie das möchte, uns zu besuchen.”, sagte ihr Papa.

Myrie verflocht die Hände ineinander und hopste wieder.

Dann begann das Lichterspiel. Es wurde durch am Boden stehende EM-Sender am Himmel um das Schulgelände herum erzeugt, – eine ganz andere Art, elektromagnetische Kräfte Kunst erscheinen zu lassen, als die Virtualitäten. Leise, glitzernde, bunte Lichter rieselten vom Himmel herab und bildeten Muster. Myrie stand zwischen Merlin und ihrem Papa und betrachtete es bewundernd. Sie standen dicht beieinander. Myrie machte es aus seltsamen Gründen nichts aus. Irgendwie fand Merlins Hand ihre und sie verflochten sie ineinander. Merlins Hand war so zart, fand Myrie. Und ihre war so klein im Vergleich zu seinen. Es bedeutete Myrie viel, dass Merlin ihre Hand festhielt. Es bedeutete in etwa, dass er sie nicht plötzlich piesaken würde, sondern es wohl, wenn nichts Schlimmeres passierte, weiter in Ordnung finden würde, mit ihr zu interagieren. Es war eine Art Vertrauensbekundung, überlegte Myrie.

Das Lichterspiel dauerte sehr lange und ihr Papa und Ahna verabschiedeten sich irgendwann in der Nacht, weil ihre Unterkunft in Thale war, und sie noch den ganzen Weg bis dahin wandern müssten. Merlin und Myrie standen noch eine weitere halbe Stunde beieinander, bis sich auch Merlin verabschiedete.

“Ich müsste dann auch gehen. Ich bin heute noch mit Fadja verabredet.”, sagte er.

“Geht es ihr besser?”, fragte Myrie.

Sie dachte zurück an Merlins und ihre erste Begegnung im Zug, in der sie sich keine einzige persönliche Frage an Merlin hatte ausdenken können, und dass sich das ganz schön geändert hatte. Sie hoffte, dass es Fadja gut ginge.

“Sie ist seit zwei Tagen auf dem Weg der Besserung und nun wieder gesund genug, mich in einer Virtualität zu treffen und mir nicht nur Nachrichten zu schicken.”, antwortete Merlin lächelnd.

Dann löste er seine Hand aus ihrer und ging, sah sich noch einmal um und winkte.

Nun war Myrie allein. Sie fragte sich, ob sie einfach ins Bett gehen sollte. Aber im Grunde war sie noch zu aufgewühlt. Sie versuchte sich auf die kühle Luft zu konzentrieren, schloss die Augen und atmete ruhig. Sie fühlte die Luft in ihren Brustkorb und ihren Bauch gelangen, sich aufwärmen und wieder entweichen. Sie spürte es besonders im oberen Bereich ihrer Atemwege. Sie lächelte. Auch wenn es alles recht anstrengend war, war sie gerade glücklich.

“Myrie?”, hörte sie eine zaghafte Stimme hinter sich, die sie nicht zuordnen konnte.

Sie öffnete die Augen und drehte sich zur Person um, die sie angesprochen hatte. Es war Sarina. Auch wenn sie mit Sarina in einem Zimmer wohnte, hatte sie ihre Stimme noch nicht oft gehört. Sarina sprach selten.

“Ich brauche deine Hilfe.”, sagte Sarina leise.

Die Stimme klang halb erstickt, als würde ihr etwas die Luft abklemmen. Was auch immer sie für ein Problem hatte, es war wohl eines, das ihr sehr zu schaffen machte und Myrie hatte sofort Mitgefühl.

“Was brauchst du?”, fragte Myrie.

“Ich muss vom Gelände.”, sagte Sarina.

Ihre Stimme war nun ganz weg und nur ein tonloses Flüstern blieb. Myrie sah sich um. Die Menge der Zuschauenden hatte sich gelichtet, nur vereinzelt standen Grüppchen von Leuten herum. Sie nickte. Das war unbemerkt machbar.

Sie setzte sich in Bewegung und Sarina ging neben ihr her, langsam, damit sie wie spazierend aussahen. Myrie vermutete, da hinter dem Gewächshaus, wo sie kürzlich mit Olge trainiert hatte, wenig Raum bis zum Gitter war, dass es gut sein konnte, dass dort niemand war. Sie behielt recht.

“Kannst du darüber klettern?”, fragte sie.

Sarina nickte. Es war, wenn man es nicht in Myries Art bei der ersten Überquerung tat, auch nicht sonderlich schwierig. Das Gitter bestand aus je einer handbreit voneinander entfernten vertikalen Gitterstäben, die in regelmäßigen Abständen von angebrachten horizontalen Gitterstreben gehalten wurden. Auf diese konnte Sarina beinahe gemütlich ihre beschuhten, schmalen Füße setzen, und das Gitter erklimmen.