Spiel mit der Schwerkraft
Der nächste Tag begann mit Sportunterricht bei Antastra Hobbs, einem Elb, der beinahe gar nicht in das Schullektürenbild eines Elben passte. Sie war der erste Elb mit kurzen Haaren, den Myrie zu Gesicht bekam. Sie waren vielleicht ein oder zwei Zentimeter lang und blau. Antastra Hobbs war sehr groß und sehr schmal und muskulös. Sie trug hautenge, silbrige Hosen und ein ärmelloses ebenso hautenges Oberteil in dunkelblau, auf dem die Aufschrift “Leichtathletik, 1. Elben, Thale” vorn und hinten prangte.
Für den Sportunterricht brauchten sie ihre EM-Anzüge, und weil Myrie ihren abzuholen vergessen hatte, musste sie noch einmal aus dem Unterricht, um das nachzuholen und sich dann auch noch umziehen. In der ersten Stunde machte Antastra Hobbs mit ihnen verschiedene Übungen mit virtuellen Geräten und Bällen, um ihre Kraft und ihre Reflexe kennen zu lernen. Sie war positiv angetan über Myries Kraft und Kondition, und auch die meisten in ihrer Lerngruppe, die schon wieder leicht anders zusammengesetzt war, waren beeindruckt oder überrascht, Merlin wirkte irgendwie stolz, nur Hermen wirkte eher missmutig oder gehässig.
Biologie hatten sie bei Julov Floster, einem etwas träge wirkendem Menschen, dessen Unterricht überraschend langweilig war. Biologie hatte Myrie bislang spannend gefunden, und sie wusste nicht so genau, ob es an dem Mann lag, der etwas nuschelte, und dessen Mund sie nicht durch den Bart erkennen konnte, oder an seiner Art, die Dinge vorzutragen, oder ob es tatsächlich am Fachlichen lag. Nun, sie würde es erst einmal ausprobieren, und sollte es sich weiter als langweilig herausstellen, würde sie vielleicht lieber wieder von Omantra darin unterrichtet werden wollen.
Das letzte Fach, dass sie heute hatten, war Modellierung, das Fach, auf das Myrie am meisten gespannt war. Es fand in der größten Spielhalle statt, die Myrie je gesehen hatte, aber sie wurde von Daina informiert, dass es in der Stadt, aus der sie kam, noch deutlich größere gab, ja, dass dies nicht einmal die größte der Schule war.
Der Lobbud, der sie eingelassen hatte, war zwar für einen Lobbud groß, aber dennoch eineinhalb Köpfe kleiner als Myrie und stellte sich als Lalje Brock vor. Sie hatte braunes, schulterlanges Haar, dass sehr gepflegt wirkte und glänzte. Einige dicke Strähnen waren in Zöpfe geflochten und hinter ihrem Kopf zusammen gebunden. Sie hatte ein glattes rundes Gesicht, aber ihre Wesensart war nicht sofort klar. Sie wirkte nicht sehr streng oder autoritär, aber auch nicht freundlich und so, als wäre eigentlich immer alles in Ordnung bei ihr, wenn man es nur begründen konnte. Dieses nicht in der Lage sein, die Lehrerin einzuschätzen, stresste Myrie etwas.
Lalje Brock erklärte, dass sie zunächst in ihrem Unterricht lernen würden, welche physikalischen Gesetze in fast allen Virtualitäten auftraten und was passierte, wenn man an ihnen herumspielte. Sie würden mit der Schwerkraft anfangen. Dann bat sie ihre Lernenden, sich in Paaren zusammenzufinden. Myrie wandte sich nach kurzem Zögern an Merlin, aber da hatte Hermen ihn schon gefragt. Merlin zögerte jedoch. Die Situation wurde dadurch gelöst, dass Daina Myrie fragte, ob sie nicht zusammen ein Paar bilden sollten und Myrie war einverstanden. Allerdings war sie auch kurz ziemlich verdattert. In ihren letzten Experimenten mit Lernvirtualitäten hatte niemand mit ihr zusammen etwas machen wollen, wenn Gruppenarbeit angesagt war, und es hatte Ermahnung bedurft, damit Leute sich dazu überwanden. Und nun waren gleich zwei Mitlernende bereitwillig, mit ihr zu arbeiten. Myrie merkte, dass sie zu atmen aufgehört hatte, schmunzelte und holte ein paar mal tief Luft.
“Das wird sicher lustig!”, mutmaßte Daina und grinste dabei beinahe unheimlich.
Sie wurden am Rand des Raums entlang verteilt, wo sie jeweils einen am Boden gekennzeichneten Bereich für sich bekamen und ihre VR-Brillen aufsetzen sollten. Sie betraten jeweils zu zweit eine eigene Virtualität mit weichem Erdboden, der in die eine Richtung leicht abfiel, und in der anderen in einen Felsen überging, der, wie Myrie sofort erkannte, mit seinen vielen Ritzen und Spalten hervorragend zum Klettern geeignet war. Myrie juckte es in den Fingern. Allerdings fragte sie sich, ob das tatsächlich ihre Aufgabe war und wartete daher vorsichtshalber erst einmal ab. Es schien ihr nicht sehr wahrscheinlich: Sie waren hier zwar wieder die alte Lerngruppe aus den ersten beiden Stunden, die sie gehabt hatte, aber sie wusste über wenigstens die, die im Sportunterricht dabei gewesen waren, dass die meisten anderen eher Schwierigkeiten haben würden, an so einer Felswand hochzuklettern.
“Nun, wenn ihr Daumen und Zeigefinger aufeinanderlegt, bekommt je eine Person von euch einen Regler zu sehen, an dem ihr die Schwerkraft für die andere Person hoch- und runterregeln könnt. Probiert das doch vorsichtig aus. Klopft die andere Person auf die Wand oder den Boden oder sagt Stopp, drückt ihr Reset. Das ist allgemeine Regel, es soll ja niemandem zu viel werden.”, gab Lalje Brock Anweisungen.
Daina hatte zuerst Daumen und Zeigefinger aneinander gelegt und bekam deshalb vielleicht auch den Regler zuerst. Sie fragte Myrie, ob das okay wäre, wenn sie anfinge, und Myrie nickte.
Daina drehte den Regler ganz runter, und Myrie fühlte sich auf einmal sehr leicht. Sie versuchte zu gehen, aber stattdessen flog sie fast über den Boden. Sie spürte ein leichtes Ziehen des EM-Anzugs zwischen den Beinen, nur ganz leicht, das ihr aber verriet, wie diese Beinaheschwerelosigkeit entstand: Es wurde schlicht ein Gegenkraftfeld zur Erdanziehung erzeugt, das natürlich nur der Anzug wahrnahm, nicht aber ihr Körper, aber da der Anzug so perfekt saß, wie eine zweite Haut, war die Simulation dennoch sehr gut. Nur sehr leichtes Abstoßen genügte, und sie machte weite langsame Sprünge. Daina drehte den Regler ganz nach oben und Myrie fühlte sich etwa so, als hätte sie lange geschwommen oder getaucht und sei dann aus dem Wasser gestiegen, zum Beispiel, wie nach einem langen Besuch der Ozeanvirtualität. Jede Bewegung fiel ihr schwerer, und das war irgendwie schön. Sie mochte dieses Gefühl, nach unten gezogen zu werden. Sie fragte sich, ob es ihr in dieser Situation schwerer oder leichter als unter normalen Umständen fallen würde, den Fels hinauf zu klettern, und nahm ihn in Angriff.
“Du bist echt krass drauf! Das mag ich!”, rief Daina zu ihr hoch.
Als sie gerade etwa drei Mal ihre eigene Länge nach oben geklettert war, drehte Daina ohne Vorwarnung den Regler wieder ganz runter. Myrie verlor den Halt, aber weil sie sich gerade zuvor nach oben abgedrückt hatte, flog sie zunächst ein Stückchen weiter nach oben, wo sie sich festhielt, bevor die Schwerkraft wieder an ihr zog. Das bisschen, das davon noch da war. Offenbar konnte Daina sie nicht ganz ausdrehen.
Mit wenig Schwerkraft fiel es ihr viel schwerer, den Fels weiter hochzuklettern. Dabei hätte es doch leichter gehen müssen. Aber ihr fehlte immer ein bisschen die Kontrolle, dort zu bleiben, wo sie war. Ihr Körper behielt viel zu gern die Bewegung bei, die er zuletzt hatte. Am besten schienen tatsächlich Bedingungen nahe den gewöhnlichen zum Klettern.
Genauso unvermittelt, wie Daina die Schwerkraft heruntergedreht hatte, drehte sie sie nun wieder auf, aber dieses Mal war Myrie innerlich vorbereitet, dass so etwas passieren konnte. Das bisschen Zeit, dass der Regler brauchte, um den Weg von unten nach oben zurückzulegen, reichte Myrie voll aus, um sich darauf einzustellen.
“Du bist der Hammer! Komm mal wieder runter! Ich drehe die Schwerkraft etwas runter, dann solltest du einfach springen können.”, sagte Daina.
Myrie folgte der Aufforderung.
“Hast du was dagegen, wenn ich den Regler etwas ausweite und wir mal mit größeren Faktoren als Faktor 0.2 und 2 arbeiten?”, fragte Daina, “Das gehört zwar so nicht, aber ich bin ganz vorsichtig.”
“Okay.”, erklärte Myrie sich bereit.
Daina machte einige Gesten mit der Hand und murmelte einige Worte, wie “Override Security” und der Regler bekam auf einmal die Werte 0 bis 15.
“Gut, dann fangen wir mal damit an, dich schwerer fühlen zu lassen, halt immer eine Hand über dem Boden, damit du klopfen kannst, sonst höre ich auf.”, sagte Daina.
Myrie nickte und Daina drehte den Regler zügig auf 2 und dann langsam hoch. Als sie bei 4 war, begann es sie wirklich in ihrer Bewegung einzuschränken und sie überlegte, dass es bestimmt nun lustig war, zu probieren zu Klettern. Es kostete sie äußerste Anstrengung einen Klimmzug zu machen. Bald hing sie nur noch mühevoll an ihren Händen, als der Regler noch höher gedreht wurde, und konnte sich gar nicht mehr hochziehen. Allerdings wollte sie auch nicht loslassen. Ein Gefühl sagte ihr, dass in dieser von Daina veränderten Virtualität vielleicht auch die Sicherung fehlte, die Personen üblicherweise in Virtualitäten davor bewahrte sich weh zu tun. Üblicherweise fing eine Virtualität Personen weich auf, wenn sie fielen, aber ob diese es tat, wagte Myrie zu bezweifeln. Kurz bevor sie sich nicht mehr hätte halten können, rief sie “Stopp!” und Daina gehorchte.
Lalje Hobbs warf einen Blick auf sie. Sie stand eigentlich bei einer anderen Gruppe, der sie sich dann auch wieder zuwandte, als Daina den Regler wieder herunterzudrehen begann. Vielleicht hätte Myrie auch mehr ausgehalten, hätte die Stelle, an der sie sich hielt eher einer Stange geglichen wie im Sportunterricht.
“Wäre eh nicht mehr viel weitergegangen, wir waren bei 14.5!”, rief Daina, als die Lehrerin eindeutig abgelenkt schien.
Myrie war nicht sicher, wie weit sie schon herunter geregelt hatte, aber nun fühlte sie sich in der Lage weiterzuklettern. Sie überlegte, ob sie nicht in Virtualitäten mit erhöhter Schwerkraft Krafttraining machen sollte. Das wäre bestimmt nicht schlecht. Und während sie sich das vorstellte, drehte Daina erneut den Regler abrupt ganz herunter und Myrie war nicht vorbereitet. Noch dazu war die Schwerkraft nun ganz weg. Da sie gerade in einem Klimmzug gewesen war, und sich dann auch noch verjagt vom Fels abgestoßen hatte, flog sie nun Richtung Himmel, weg vom Fels und konnte nichts dagegen tun.
“Ach du je!”, rief Daina.
Sie drehte die Schwerkraft wieder an, und mit einem Ruck wurde Myrie nach unten gezogen. Dann drehte Daina die Schwerkraft wieder aus, weil Myrie ziemlich schnell geworden war durch den Fall. Aber die Abwesenheit von Schwerkraft bremste einen ja nicht. Und so kam der Boden zügig und unaufhaltsam näher und gleich würde sie wissen, ob er sie auffing oder nicht. Sie fühlte sich an ihren Sprung gestern erinnert und ihre Reflexe setzten ein, retteten sie davor, sich Knochen zu brechen. Sie rollte mehrere Male auf dem Hallenboden vorwärts, bevor sie wieder aufstand und sich die Schulter rieb. Daina hatte anscheinend die Schwerkraft wieder auf einen durchschnittlichen Wert gedreht, als sie auf dem Boden aufgekommen war.
“Du hast dir nichts getan?”, fragte Daina besorgt. Sie zitterte etwas.
“Kaum. Ein blauer Fleck vielleicht. Mir tut nichts weh.”, beruhigte Myrie sie.
“Das tut mir echt leid. Wir sollten das wieder zurückstellen!”, sagte Daina.
“Warte kurz!”, hielt sie Myrie auf. Sie musste nachdenken. Es hätte doch möglich sein müssen die Situation zu retten. Sie hätte nicht die Schwerkraft einfach wieder aufdrehen dürfen. Aber dann wäre Myrie für immer nach oben geflogen. Und wenn sie die Schwerkraft zwar aufgedreht, aber nur ein kleines bisschen aufgedreht hätte? Dann wäre sie dennoch irgendwann nach unten beschleunigt worden.
“Hmm.”, überlegte Myrie und legte Daumen und Zeigefinger aneinander. Sofort schwebte der Regler vor ihr und nicht mehr vor Daina.
“Denk dran, dass ich nicht so viel abkann, wie du!”, sagte Daina ängstlich. “Was hast du vor?”
“Ich würde gern ganz vorsichtig was ausprobieren.”, sagte Myrie. Sie ging es mehrfach im Kopf durch, bevor sie es sich zutraute umzusetzen.
“Darf ich?”, fragte sie schließlich.
Daina zögerte, aber dann nickte sie vorsichtig.
Myrie drehte die Schwerkraft recht niedrig.
“Hops mal vorsichtig.”, forderte sie Daina auf, die ihr gehorchte, sehr vorsichtig.
Aber es genügte. Myrie drehte den Schwerkraftregler aus und Daina gewann langsam an Höhe. Dann, ganz vorsichtig, drehte Myrie den Schwerkraftregler wieder an, bis Daina nicht mehr emporstieg aber noch nicht fiel und drehte ihn dann wieder aus. Sie hatte den Moment nicht perfekt erwischt. Daina schwebte sehr langsam wieder nach unten, bis sie auf dem Boden ankam, wo sie allerdings keinen Halt fand, abprallte und wieder aufstieg. Abprallen war ein interessanter Begriff, wenn man bedachte, dass der Boden sie etwa so doll berührt hatte, wie eine Hand einen Tisch, wenn sie lediglich darauf abgelegt wurde.
Myrie wiederholte den Versuch einige Male, bis es ihr tatsächlich gelang, Daina in der Luft zu fangen. Sie fingen beide an zu kichern.
Als Lalje Brock, die von Gruppe zu Gruppe trat, sich in ihre Richtung wendete, sagte Daina leise “Reset Menu” und sie erhielten den Regler mit den alten Größen zurück. Daina fiel langsam wieder zu Boden.
“Ihr zwei scheint Spaß zu haben. Ich habe dich vorhin klettern gesehen.”, wandte sie sich an Myrie. “Das geht gut mit etwas weniger Schwerkraft, was?”
Daina schnaubte und kicherte noch mehr und auch Myrie konnte sich das Kichern kaum verkneifen. Es war eigentlich nicht so, dass sie irgendetwas besonders komisch gefunden hätte, sondern sie war einfach glücklich und ihr war generell zum Lachen zu Mute und nun steckten Daina und sie sich gegenseitig an und steigerten sich da hinein. So etwas hatte sie lange nicht mehr gehabt und zuletzt mit ihrer Schwester. Auch die Lehrerin lächelte und ging weiter zur letzten Gruppe.
Nach der Unterrichtseinheit hatte Myrie das erste Mal gleichzeitig Zeit und Kraft, ihren Papa anzurufen und ging dazu in ihren persönlichen Spielraum. Während sie darauf wartete, dass er den Anruf entgegen nahm, stellte sie sich eine Virtualität zusammen, in der sie sich gut entspannen konnte. Sie wollte auf jeden Fall Meeresrauschen haben, aber lieber etwas weiter aus der Ferne. So setzte sie sich an einen Baumstamm gelehnt oben auf eine Steilküste, von der aus sie das stahlgraue Meer beobachten konnte.
“Ich muss ja zugeben, ich hätte damit gerechnet, dass du früher anrufst.”, sagte schließlich Vadime, freundlich, nicht vorwurfsvoll, und zu ihrer Überraschung stand er auch vor ihr.
“Papa!”, rief sie, sprang auf und umarmte ihn.
Er war kleiner als sie. Sie sehnte sich danach zurück, von einer Person umarmt zu werden, die größer war als sie. Vielleicht würde Merlin das ja irgendwann machen. Sie legte ihren Kopf in seine Halsbeuge und er streichelte ihr über Schläfen und Ohren. Sein Bart kratzte an ihrem Gesicht. Das irritierte sie und sie löste sich wieder.
“Die Virtualität macht nicht so schöne Sachen mit deinem Bart. Der ist gar nicht so weich wie sonst.”, beschwerte sie sich.
“Oh, wusste ich gar nicht. Wahrscheinlich wird mein Bart in der Virtualität so erzeugt, wie Bärte durchschnittlich so sind bei Leuten, die wie ich aussehen. Ich schaue zum nächsten Mal, was ich da verbessern kann.”
“Du, Papa, du bist doch eigentlich gar nicht gern in Virtualitäten.”
“Nicht zum Spielen, aber wenn es darum geht meine Tochter zu sprechen, ist das was völlig anderes. Hast du länger Zeit oder musst du gleich wieder in einen Unterricht?”
“Ich habe frei für heute.”
Vadime beschwor einen großen Schaukelstuhl hervor, vergrößerte seine Erscheinung und setze sich hinein, die Arme einladend geöffnet und Myrie kuschelte sich auf seinen Schoß. Das war fantastisch. Vadime wickelte außerdem eine weiche Decke um sie und so schaukelten sie eine Weile stumm, bevor sie weitersprachen. Die Sonne schien von oben auf ihre Köpfe und wärmte sie, ein leichter warmer Wind wehte, Möwen kreischten, Wolken zogen über den Himmel.
“Sind Leute nett zu dir?”, fragte ihr Papa schließlich.
“Nicht alle. Da ist Hermen, der ist eher gemein zu mir. Aber sein Herzwesen Merlin ist toll! Aber Papa! Wusstest du, dass meine Mutter hier vielleicht zur Schule gegangen ist?”, fragte sie plötzlich aufgeregt.
“Nein, ehrlich gesagt weiß ich über den frühen Lebensweg deiner Mutter kaum etwas. Darüber hat Heddra nur wenig gesprochen. Woher weißt du denn davon oder woher nimmst du deine Vermutungen?”
Es klang so schön, wenn er den Namen ihrer Mutter sagte, fand Myrie. “Ich habe das in einem Gespräch zwischen zwei Lehrkräften im Wald belauscht.”
Myrie fiel auf, während sie das sagte, dass sie nun unweigerlich von ihrem Ausflug in den Wald berichten musste. Also tat sie das in allen Einzelheiten. Ihr Papa wirkte besorgt, hörte aber aufmerksam und ohne zu unterbrechen zu und schimpfte auch nicht. Er wusste schon an der Art, wie Myrie es erzählte, dass es sich dabei nicht um eine kontrollierte Entscheidung gehandelt hatte.
“Ich bin wirklich froh, dass dabei so wenig passiert ist.”, seufzte er schließlich.
Wieder schwiegen sie eine Weile, schaukelten einfach unter dem Himmel und mit dem Rauschen des Meeres in den Ohren. Myrie schloss die Augen, und ihr Papa streichelte ihr über den Rücken.
“Oh, es klopft hier!”, sagte er schließlich. “Ich glaube, Ahna möchte dich noch sprechen.”
Myrie sprang auf, wenn auch mit weniger Elan als sonst oft. Sie war immer noch müde. Schule war schon etwas sehr anstrengendes.
“Okay.”, sagte sie schließlich und Ahna trat ein.
Sie erschien für Myrie einfach aus dem Nichts und sah sich gespannt um.
“Ich lass euch zwei Mal allein.”, sagte ihr Papa.
Myrie umarmte ihn noch einmal zum Abschied.
Mit Ahna ging sie in eine neue Welt, die Ahna gebaut hatte. Ahna brannte darauf, sie ihr zu zeigen. Sie war voller verschieden großer Kreise und Kugelformen und man konnte durch Röhren hindurchrutschen und sie dabei anmalen.
“Wenn wir uns öfter treffen könnten, könnte ich mich daran gewöhnen, dass du nicht da bist.”, sagte Ahna schließlich.
“Aber ich war doch auch sonst viel unterwegs.”, gab Myrie zurück.
Sie gingen gerade einen kreisrunden Gang entlang, der einen Bogen in einer vertikalen Ebene einschlug. Der Gang stieg entsprechend an und wurde immer steiler. Als er so steil war, dass sie andernfalls abgerutscht wären, schwebten einige symmetrisch angeordnete Ringe frei in der Luft, an denen man sich festhalten konnte, und die sich nahtlos ins Muster einfügten. Die Schwerkraft fühlte sich nicht reduziert an, und trotzdem war es über Mechaniken der Virtualität auch für Ahna ein Leichtes, dort hinaufzuklettern. Es strengte nicht an.
“Du bist bisher mindestens 5 Abende in der Woche immer zum Essen da gewesen. Das ist schon was anderes, wenn du nicht da bist.”, entgegnete Ahna.
Sie wirkte traurig und Myrie fragte sich kurz, ob sie für Ahna vielleicht die Schule aufhören sollte. Aber auf der anderen Seite hatte sie wirklich bis jetzt den Eindruck, dass die Schule gut für sie würde. Dass sie sonst immer nur das tun würde, was sie gewohnt war, und dass es aber so viel Neues zu erkunden gab. Auch hatte sie den Eindruck, dass Omantra eine Schule ausgesucht hatte, in der Myrie endlich vielleicht in der Lage wäre, Herzwesen zu finden. Sie schüttelte den Kopf.
“Ich bleibe hier.”, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Ahna.
“Du kommst zum Wochenende nicht nach Hause?”, fragte Ahna schockiert.
“Oh, doch natürlich. Ich meinte nur, ich denke, ich breche die Schule nicht ab.”, sagte Myrie.
“Immerhin sehen wir uns am Wochenende. Papa meint, ich solle aufpassen, dass ich dich nicht so doll versuche zu überreden, wieder zu Hause zu bleiben. Ich hoffe, ich kriege das hin.”
Als Myrie den Raum verließ, war sie ein wenig niedergeschlagen. Sie ging die nun eher leeren Gänge entlang zu ihrem Zimmer. In vielen Unterrichtsräumen fand noch Unterricht statt. Myrie hätte auch Nachmittagsunterricht wählen können, aber ihr war Vormittagsunterricht lieber. So konnte sie den Nachmittag für andere Dinge nutzen, wie eben zum Beispiel zum Telefonieren. Sie überlegte, ob sie jetzt noch etwas zu essen bekäme, kehrte um und ging zurück in den Speisesaal. Hier war immer noch einiges los, aber lange nicht so viel wie in den Mittagspausen. Der Saal war vielleicht zu einem Viertel gefüllt mit verhältnismäßig ruhigen Leuten, die hier gemeinsam Texte lasen oder über Aufgaben oder Rätseln brüteten. Eine Fülle, bei der die Stoffbahnen an den Wänden tatsächlich brachten, was sie versprachen. Manche wenige aßen auch. Die Drucker druckten noch, aber nur auf Anforderung, wie Myrie feststellte. Da die Essensausgabe nun leer war, konnte sie sich mit dem Ort vertraut machen und sich orientieren. Oberhalb der Drucker zum Beispiel waren Anzeigetafeln, die sie hätte quer durch den Speisesaal lesen können, auf denen der Name der Speise und eine Kurzbeschreibung war. Aber sie hatte nicht gewusst, wo sie hätte hingucken müssen, also hatte sie diese durchaus auffälligen Anzeigetafeln nicht gesehen. Neben dem Drucker, der Rezepte erwartete, damit er druckte, was immer man sich wünschte, war eine Anzeigetafel, auf der sie eine Anleitung durchlesen konnte. Die Hauptdrucker druckten Frühstück und Mittagessen aber zum Frühstück mehr das eine und zum Mittag mehr das andere. Der Speiseplan konnte zum Beispiel über die Lern-KI auch zum Wecken mitgeteilt werden, oder zum Ende der Stunde, wenn man das wollte, sodass man zu den Essenszeiten schon wusste, wo man hingehen wollte.
Myrie druckte sich noch ein paar Frühstücksstäbchen von den Sorten, die ihr gut geschmeckt hatten, und packte sie sich ein. Sie überlegte diese gemütlich im Bett zu essen. Dann entdeckte sie eine Tür, die unscheinbar zwischen den Druckern in einen Hinterraum führte und die tatsächlich auf eine Geste mit ihrer Hand hin aufsprang. Dahinter konnte sie die großen Druckerkatuschen sehen, und die Vorrichtungen, mit denen sie ausgetauscht würden. Sie sah auch die Aufzüge, mit denen sie in den Bahnhof hinunter- und hinaufgefahren wurden.
Der Raum hatte nach hinten hin eine weitere Tür, die in das Treppenhaus führte, in dem sie gestern Mittag schon gelandet war. Sie erkundete auch dieses eine ganze Weile, aber abgesehen davon, dass sie hier mehrere Stockwerke hinauf und hinunter steigen konnte, bot es nicht viel Spannendes, denn für die Türen, die nicht zum Verlassen des Treppenhauses dienten, war sie meist nicht autorisiert. Die einzige Tür, die sich in jedem Stockwerk öffnete, war eine zu einem Haufen Reinigungsrobotern, die hier auf Standby warteten, bis sie wieder putzen sollten. Omantra informierte sie, dass die anderen Räume überwiegend Infrastruktur für die Virtualitäten beinhalteten.
Eines aber brachte ihr dieses Treppenhaus doch: Dadurch, dass es etwas unscheinbarer und weniger gut zu erreichen war, bot es eine Möglichkeit für sie, beim Wechseln der Unterrichtsräume weniger Leuten über den Weg zu laufen.
Endlich entschied sie sich, das Umherstreifen sein zu lassen und zu ihrem Zimmer zurückzukehren. Auf dem Weg formte sie Pläne, welche Wege sie morgen wählen würde.
Als sich ihr Zimmer für sie öffnete, drang Musik auf den Flur, die sie vorher nicht gehört hatte, dabei war sie nicht gerade leise. Der Raum schloss also wirklich beeindruckend schalldicht ab. Die Musik wurde sofort leiser gestellt, als sie den Raum betrat. Sie konnte kaum ins Zimmer gehen, weil sie keinen Platz hatte. Merlin hatte seine Anlage mangels Platz mitten im Zimmer aufgebaut.
“Es tut mir leid, ich packe die gleich wieder zusammen.”, sagte er, als er sah, wie Myrie ratlos nahe des Eingangs stehen geblieben war. “Ich wollte lediglich etwas Musik machen und die anderen zwei waren dafür.”
Hermen saß im Schneidersitz auf dem Bett, eine durchsichtige Kugel in der Hand, in denen mit Laserlicht Geschicklichkeitsspielchen aufgebaut waren. Es ging dabei darum, den Ball in den richtigen Momenten mit dem richtigen Schwung zu drehen oder zu schütteln.
“Ah, Myrie.”, sagte er etwas gedehnt.
Seine glatten, braunen Haare fielen ihm nass auf die Schultern. Er hatte sie offenbar kürzlich geduscht, dachte Myrie.
Sarina lag wieder auf dem Bett, die Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die auf je einer Seite des Kopfes auf der Bettdecke lagen, während sie selbst dieses Mal auf der Bettdecke lag und nicht darunter. Myrie fiel auf, dass sie bei lauter Bewunderung des Kopfes, der Haare und der Statur noch nur wenig Aufmerksamkeit auf ihre Kleidung gerichtet hatte. Sarina trug ein enges, grünes, ärmelloses Oberteil, und ein langärmliges, schwarzes, durchscheinendes darüber, das aber auf er Oberseite offen war und nur an wenigen Stellen zusammengeheftet und die Schultern ganz frei ließ. An den Beinen trug sie eine hautenge Hose im gleichen grün, und darüber eine aus dem gleichen durchscheinenden schwarzen Stoff angefertigte, weite Hose, die an den Knöcheln zusammengebunden war. Merlin machte ein zirpendes Geräusch, und Myrie, der gerade klar geworden war, dass sie schon wieder starrte, schaute zu ihm zurück. Er war damit beschäftigt, ein paar Kabel zu ziehen.
“Warte mal.”, rief sie.
Merlin sah überrascht auf.
“Vielleicht können wir einfach umbauen.”, überlegte sie.
“Ich habe auch schon überlegt, ob das irgendwie besser ginge, aber mir ist nichts eingefallen.”, entgegnete Merlin.
Myrie zwängte sich an ihm vorbei zu ihrem Bett. Sie hob es an, und wie sie vermutet hatte, änderte es wie gewünscht seine Höhe. Sie schob es so hoch, dass Merlin darunter stehen konnte, und das war so hoch, dass sie kaum mehr mit den Fingerspitzen daran kam.
“Ja, das wird sicher hilfreich sein, dass wir dich dann immer ins Bett und wieder hinaus heben müssen!”, sagte Hermen. “Ist ja nicht so, als hätte Merlin nicht schon genug für dich getan.”
Myrie reagierte nicht, aber ein unangenehmes Gefühl stieg in ihr hoch, dass sie zum Teil als Wut und zum Teil als Verachtung gegen sich selbst identifizierte.
“Omantra, kannst du mir eine Stange unters Bett bauen, so 10cm von der Bettkante entfernt?”, murmelte sie leise.
“Ist eingerichtet. Du bist die einzige Person, für die diese Stange existiert.”, sprach Omantra in ihr Ohr.
Myrie fühlte durch die Luft über ihr und fand die virtuelle Stange. Sie verschob die Stange noch so, dass sie ganz leicht vor dem Bett vorstand und schob das Bett noch ein Stück weiter nach oben. Dann holte sie ein wenig Schwung, so viel, wie sie mit dem wenigen Raum eben konnte, der noch da war, sprang hoch, zog sich an der unsichtbaren Stange hinauf, und rollte sich ins Bett. Dann lächelte sie.
“Nun hast du Platz da drunter.”, sagte sie.
“Gut, wenn du meinst, dass dir das nicht zu kompliziert ist!”, sagte Merlin. “Danke dir! Aber wenn dir das irgendwann nicht mehr gefällt, sag Bescheid!”
“Ich fühle mich hier oben sogar viel wohler als da unten.”, entgegnete sie.
“Schön einsam da oben, was?”, fragte Merlin.
Er hatte sie erwischt, dachte Myrie. Das war tatsächlich, was diese Höhe so reizvoll machte. Hermen würde ihr hier oben nicht so schnell einen Eimer Wasser über den Kopf schütten, oder sonstig einfach nicht so gut an sie herankommen. Sie war hier geschützter. Wenn sie sich hinlegte, konnten die anderen sie sogar nicht einmal sehen.
“Stört es dich, wenn ich noch etwas Musik mache?”, fragte Merlin.
“Überhaupt nicht!”, entgegnete Myrie.
Sie kroch in die hinterste Ecke des Bettes, lehnte sich mit dem Kissen im Rücken an die Wand und knabberte ihre Stangen, während Merlin musizierte. Es war eine zarte, entspannende Melodie mit Klavier und ein paar Streichern, die Merlin erzeugte. Irgendwann legte sie sich voll Neugierde quer über die Matratze und schaute herunter.
“Wo warst du eigentlich?”, fragte Merlin.
Es war offensichtlich, dass er sich stark konzentrieren musste, um gleichzeitig spielen und sprechen zu können.
“Ich habe mit meinem Papa telefoniert und dann die Gänge erkundschaftet.”, antwortete Myrie.
“Hast du einen Geheimgang gefunden?”, fragte Hermen.
“Nein. Also schon nicht allzu häufig benutzte Gänge, aber ich denke nicht, dass die geheim sind.”, antwortete Myrie.
“Wenn du ein Gehirn gefunden hättest, wüsstest du vielleicht, dass das ein Scherz war!”, entgegnete Hermen.
“Kannst du das vielleicht einfach dazu sagen?”, bat Myrie. “Ich bin schlecht, sowas zu erkennen.”
“Ja, das merke ich. Aber es ist so ein bisschen der Witz von Scherzen, dass man das nicht macht. Sonst wären sie ja nicht lustig, du Blödchen.”, sagte Hermen.
“Wenn man sie nicht als Scherze identifizieren kann, sind sie auch nicht lustig.”, erklärte Myrie.
Sie spürte, wie ihr Adrenalinpegel mit jedem Austausch anstieg und sie in Schweiß ausbrach. Sie hatte Angst, er würde sie weiter Blödchen nennen, oder weitere Dinge, auf die sie nichts mehr zu erwidern wusste. Und wenn sie nichts wusste, würde er glauben, recht zu haben. Und vielleicht hatte er das und sie war tatsächlich blöd.
“Naja, wenn du zu doof bist, meine Witze zu verstehen, kann ich dir halt nicht helfen. Und sowas lernt man nicht auf dieser Schule. Da haben dann eher deine Erziehenden was verpasst, oder du bist eben unheilbar blöd.”, sagte Hermen.
Und da war es wieder. Auch Omantra hatte ihr nicht so recht beibringen können, wie man Witze versteht. Sie war also vielleicht tatsächlich einfach blöd. Aber warum störte sie das eigentlich?
“Haben nicht alle irgendwo Schwächen?”, fragte sie. Ihre Stimme war etwas brüchig.
“Aber zu wissen, was Scherz ist und was nicht, ist ja schon irgendwie wesentlicher als nicht so ein Kraftprotz zu sein, wie du, oder? Man weiß ja sonst gar nicht, was im Unterricht alles gescherzt ist, und was nicht, und was deine Lern-KI so scherzt.”, gab Hermen zu bedenken.
Wie gestern im Geschichtsunterricht, als sie sich gefragt hatte, ob vielleicht alles, was sie lernte, versehentlich Fehlinformation sein könnte, begann sich alles in ihrem Kopf zu drehen und sie bekam Panik.
“Er möchte dich nur verunsichern. Ich scherze nie. Und deine Lehrkräfte tun das fast nie.”, beruhigte sie Omantra leise.
Die Musik klang aus und verstummte.
“Du könntest mal anfangen, etwas rücksichtsvoller mit deinem Umfeld umzugehen, Hermen. Ich bin redegewandt und kann mich wehren, aber dass du das auch mit Leuten machst, die da offensichtlich keinen Spaß dran haben, finde ich mies.”, sagte Merlin.
“Du stellst dich also auf ihre Seite!”, sagte Hermen herausfordernd. Er hatte etwas Unangenehmes an sich, wie er nun Merlin ansah.
“Es gibt keine Seiten.”, sagte Merlin. “Und ich nehme mir ein Beispiel an Myrie und treffe mich nun mit Fadja.”
“Hast du das nicht gestern Abend schon?”, fragte Hermen.
“Doch, aber das hält mich nicht davon ab, das jeden Abend zu tun!”, sagte Merlin.
Einen kurzen Augenblick noch schien er streng und kurz angebunden, bevor ein glückliches Lächeln in sein Gesicht trat. Das war schön, wie er plötzlich strahlte, fand Myrie, das steckte sie sofort an.
“Ihr müsst ja ganz schön verliebt sein!”, sagte Hermen und holte aus, mehr zu sagen, aber Merlin winkte und verließ das Zimmer.
Myrie, aus Angst, Hermen könnte mehr sagen, zog sich unter die Bettdecke zurück und konzentrierte sich auf ein Gespräch mit Omantra, dass sie leise murmelnd initiierte. Sie setzte sich ihre VR-Brille auf und übte weiter an der Gestensprache, bis sie müde wurde.