Ein semirealistisches Etappenabenteuer

Myrie setzte ihre VR-Brille ab und verharrte einen Augenblick regungslos. Sie überlegte, dass sie eigentlich gerade zittern müsste, aber das tat sie nicht. Sie war gerade das erste Mal wirklich ehrlich zu einer gemeinsamen Aktivität eingeladen worden. Sie hatte Angst, aber sie hatte trotzdem zugesagt. Ihre Gedanken waren wie Nebel: Langsam und unklar. Sie trat aus dem Spielraum, ohne wirklich darauf zu achten oder die Umgebung wahrzunehmen, und ging langsam ins Wohnzimmer. Der Rest ihrer Familie speiste bereits gemeinsam, aber sie blickten auf und pausierten, als Myrie eintrat.

“Da kommst du also doch noch.”, sagte ihre Schwester.

Wenn Myrie nicht alles täuschte, dann klang ihr Tonfall eingeschnappt. Sie sagte nichts, sondern setzte sich bloß dazu. Essen konnte sie noch nicht.

“Ahna.”, sagte ihr Papa sanft.

“Ich meine, Essen machen macht auch Mühe und so.”, beschwerte sich Ahna. “Ich musste so oft darauf warten, dass sie aus ihren Bergen zurückkommt, und nun, wo sie die Woche über in der Schule ist, muss ich in den wenigen Stunden, die sie hier ist, offenbar nicht nur darauf warten, dass sie aus dem Gebirge wiederkommt, sondern auch, dass sie mit anderen fertig telefoniert hat! Das finde ich gemein. Sie hätte ruhig mal unterbrechen können für mich! Für uns!”

Myrie sah, dass Ahna Tränen in den Augen hatte, und fragte sich, ob sie das Spiel doch absagen sollte.

“Ich glaube, dein Problem ist nicht das Essen machen, oder? Ich mache das nur auf deinen Wunsch hin nicht selbst.”, sagte Vadime sanft.

“Nein, es ist nicht das Essen.”, gab Ahna zu und ihre Stimme ging nun wirklich in ein Weinen über.

Vadime stand auf und nahm Ahna sanft in die Arme.

“Familiendrama, weil Myrie zur Schule geht. Mich würde ja interessieren, wie es dort ist.”, sagte Minke.

“Du kannst das so einfach sagen. Du hattest nie so viel mit Myrie zu tun, wie ich. Für dich geht ja fast nichts verloren!”, schluchzte Ahna.

Es war zu laut. Es tat Myrie physisch weh und sie wollte am liebsten weg gehen oder sich zumindest die Ohren zu halten, aber sie wusste, dann würde sich Ahna noch schlimmer fühlen. Und natürlich wollte sie überhaupt nicht, dass es Ahna schlecht ging.

Ging sie wirklich verloren dadurch, dass sie in die Schule fuhr? Sie war doch jetzt hier! Selbst wenn sie weniger dicht Zeit miteinander verbrachten, so war es doch immer noch Zeit. Also an sich war es auch nicht weniger Zeit, sie war nur weniger dicht. Das Wort verloren bohrte sich in sie hinein und verknotete sich schmerzhaft in ihr.

“Myrie geht dir nicht verloren.”, sagte Vadime sanft. “Es tut Myrie bestimmt weh, wenn du so etwas sagst.”

Sie bewunderte oft, wie gut ihr Papa ihre Gefühlswelt einschätzen konnte. Myrie liebte ihn dafür, dass man ihm nicht so viel sagen musste, und er trotzdem Bescheid wusste. Empathie, wie ihr Omantra erklärt hatte. Myrie wünschte sich oft, diese Fähigkeit auch zu haben.

“Dann soll sie das sagen!”, rief Ahna.

Aber Myrie konnte es irgendwie nicht. Sie wusste überhaupt nicht, welche Worte dafür richtig wären, und solange Ahna schluchzte, würde sie vielleicht auch nicht sprechen können. Ahna funkelte Myrie aus ihren nassen Augen über die Schultern ihres Papas hinweg an. Myrie holte die Beine mit auf ihren Stuhl, schlang die Arme darum und legte den Kopf auf die Knie, während sie zurücksah. Was sollte sie tun. Ihr Papa ließ Ahna los.

“Ich hole dir mal einen Teller Ruccolate aus der Küche.”, sagte er und verließ das Wohnzimmer.

Myrie konnte nicht einmal sagen, dass sie eigentlich gar nichts essen wollte. Vielleicht war das auch gut so. Vielleicht hätte das Ahna noch mehr verletzt. Also blieb sie einfach weiter sitzen und schaute weiter Ahna an, die sich gerade wieder hingesetzt hatte und zurückschaute. Sie sah schön aus, wenn sie verheult war, fand Myrie. Ihr Haar und Bart waren blond und ihre rot berandeten Augen bildeten einen schönen Kontrast zu Wimpern und Haut. Myrie gefiel die Farbkombination.

Schließlich, als sie sich eine ganze Weile gegenseitig angesehen hatten, stand Ahna auf und legte sich in Myries Arme, die dafür ihre Haltung wieder öffnen musste und der Schwester durch Haar und Bart kraulte. Ihre kleine, große Schwester.

Als ihr Papa mit einem gefüllten Teller ins Wohnzimmer zurückkam, lächelte er. Aber gelöst war das Problem davon nicht, vermutete Myrie.

Minke und Nori hatten begonnen sich über Strategien für ein Abenteuerspiel auszutauschen, und Myrie hörte zum ersten Mal aufmerksam zu, während sie die Schwester streichelte, obwohl sie vieles nicht verstand. Es könnte ja ein interessanter Hinweis in ihrem Gespräch vorkommen, was sie zu erwarten hätte. Nori bemerkte es.

“Seit wann interessierst du dich für Spiele?”, fragte er.

Auch Ahna sah auf, blickte skeptisch, wand sich aus der Umarmung und ging zu ihrem Platz zurück, den Blick nicht von Myrie und Nori lassend.

“Ich bin eingeladen worden, bei einer Etappe eines semirealistischen Etappenabenteuers teilzunehmen.”, antwortete Myrie, wobei sie die letzten Worte sehr stockend von sich gab, weil es sie Mühe kostete, sich daran zu erinnern.

“Ui!”, sagte ihr Papa.

Nori nickte bedächtig und Minke hob die Brauen.

“Hast du sowas schonmal gemacht?”, fragte Minke.

Myrie schüttelte den Kopf.

“Welches Spiel?”, fragte Minke.

Myrie überlegte angestrengt. “Irgendwas mit Vulkan.”, erinnerte sie sich.

“Schatzvulkan?”, fragte Nori überrascht.

Myrie nickte.

“Oha!”, sagte Minke.

“Ich habe”, – Myrie überlegte, wie sie in Worte fassen sollte, was sie sagen wollte –, “Angst davor, etwas falsch zu machen oder den anderen irgendwie zum Nachteil zu sein.”

“Vielleicht berechtigt mit deiner Art und deinen Schwierigkeiten mit neuen Umgebungen.”, überlegte Nori.

“Aber immerhin wurdest du gefragt, richtig?”, wand Minke ein. “Kennen sie dich aus der Schule oder anderswo her?”

“Eine von ihnen kennt mich aus der Schule. Sie meinte, ich sei ein Gewinn, weil ich klettern kann.”, sagte Myrie.

Minke und Nori sahen einander nachdenklich an.

“Ja,”, überlegte Minke und sah dann zu Myrie zurück, “ja, ich denke, das kann helfen.”

“Hast du je in irgendeinem Spiel gegen Monster gekämpft?”, fragte Nori.

Myrie schüttelte den Kopf. “Ich habe mal ein Spiel versucht, aber ich bin vorher schon überfordert gewesen, bevor überhaupt Monster da waren. Ich habe mich nicht zurecht gefunden. Und irgendwoher kamen ständig Projektile und ich bin dauernd gestorben.”, sagte Myrie.

Allein bei der Erinnerung wurde ihr wuselig im Kopf und erneut fragte sie sich, ob das nicht eine absolut unsinnige Idee gewesen war, zuzusagen. Aber Daina hatte so zuversichtlich geklungen. Und irgendwie war sie auch neugierig.

“Das waren vor Ewigkeiten die Schlachten von Moria, als du Moria so toll fandest, oder?”, fragte Minke mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.

Myrie nickte erneut, obwohl sie die Vergangenheitsform störte. Sie war immer noch begeistert von den Mythen um Moria.

“Das war immerhin ein fast reines Gemetzelspiel, in dem du schon auf gegnerische Charaktere getroffen bist, denke ich, aber du hast es nicht bemerkt, weil sie oft so versteckt aus dem Hinterhalt angreifen.”, überlegte Minke weiter.

“Kann sein.”, sagte Myrie.

“Der Schatzvulkan ist da ganz anders. Es ist ja ein Abenteuer. Da gibt es eine Mischung aus Kampf und Weg finden und Geschick und Ausdauer. Das könnte vielleicht eher was für dich sein.”, motivierte er.

“Was heißt eigentlich, dass es semirealistisch ist? In der Realität treffe ich ja eigentlich gar keine Monster.”, fragte Myrie.

“Es geht um die Physik da drin.”, sagte Nori.

“Heißt das, wenn ich hinfalle, tu ich mir weh?”, fragte Myrie.

“Nein, du tust dir dann nicht weh.”, widersprach Minke. “Ich weiß gar nicht so richtig, was da alles zugehört. Das ist so normal für mich, dass ich erst mal nachdenken muss. Zum Beispiel musst du alles, was du benutzen möchtest, mitschleppen und es hat realistisches Gewicht.”

“Das heißt, man kann sich nicht sowas wie einen Stuhl aus dem nichts holen, oder nicht einfach”, Myrie suchte ein Beispiel, “ein Haus ins Inventar tun oder einen Kubikmeter Gold.”

“Genau!”, sagte Nori und lachte in dem Tonfall, den er immer hatte, wenn er Ironisches sagen würde. “Gutes Beispiel: Einen Kubikmeter Gold. Damit könnte man auch soviel anfangen in einem Abenteuerspiel!”

“Naja, in einem semirealistischen Sandkasten- und Aufbauspiel wäre das vielleicht ein gar nicht so abwegiges Beispiel. Aber ja. Genau das. Und auch, dass man eine Strickleiter nicht einfach an die Wand klatscht und dann reicht die nach oben, oder solche Dinge. Sowas macht das Spiel semirealistisch. Und deshalb ist eben auch das Klettern eine vorteilhafte Fähigkeit.”, sagte Minke.

“Kann man sich verschieden starke Charaktere bauen oder die Größe variieren?”, fragte Myrie.

“Die Größe kann man in einem gewissen Rahmen variieren, die Kraft aber nicht. Zumindest nicht einfach so. Eine Person, die in der Realität stärker ist, hat dadurch in einem semirealistischen Spiel Vorteile. Aber Schatzvulkan hat so etwas wie Zaubertränke, die für eine gewisse Zeit stärker machen. Diese muss man sich aber kompliziert brauen oder durch Tausch erwirtschaften oder anderweitig erringen.”, erklärte Minke.

Myrie nickte. Allmählich wurde sie ruhiger. Sie hatte endlich den Eindruck einen ganz kleinen Einblick in das zu gewinnen, was sie erwartete, und das beruhigte sie.

“Gibt es irgendwas, was ich auf jeden Fall oder auf keinen Fall tun sollte?”, fragte sie.

Minke und Nori sahen sich eine Weile an und gaben Geräusche von sich, die signalisierten, dass sie nachdachten.

“Nicht allein gegen zu viele Monster kämpfen?”, überlegte Nori.

“Ich würde dir raten, sobald Monster in der Nähe sind, dich erst einmal im Hintergrund zu halten. Du hast da, wie du sagst, andere mit dabei, die Erfahrung haben, – zumindest klang das gerade so raus aus dem, was du sagtest –, und denen du erst einmal zuschauen kannst.”, riet Minke.

“Also sollte ich mich generell erst einmal zurückhalten, oder bezieht sich das nur auf Kämpfe?”

“Hmm, keine einfache Frage. Ich bezog das gerade nur auf Kämpfe, aber vielleicht ist erstmal vorsichtig umschauen auch keine schlechte Devise. Auf der anderen Seite bist du meist eh sehr langsam mit deiner Umwelt, also bezieh das lieber mal nur auf die Kämpfe.”, sagte Minke.

“Halte nach Baumgeistern Ausschau. Die schießen mit Bögen aus dem Hinterhalt und sind recht flink.”, sagte Nori.

“Wie sehen Baumgeister aus?”, fragte Myrie.

“Grünlich und bräunlich, durchsichtig, fluoreszieren ganz leicht und haben eine Armbrust.”, beschrieb Nori.


Da Myrie nicht so genau wusste, ab wie viel Zeit nach Mittag Nachmittag war, war sie schon punkt Mittag fertig in ihrem Spielzimmer.

“Omantra, magst du eine Verbindung zu Daina aufbauen?”, fragte sie.

“Ja.”, sagte Omantra schlicht.

Nur wenige Augenblicke später hörte sie Daina schmatzend sprechen: “Ich esse zwar noch,”, sagte sie, “aber komm ruhig schon rüber.”

“Okay.”, sagte Myrie und befand sich abermals in dem Raum, in dem sie vorhin schon mit Daina gewesen war.

Sie blickte sich erneut um. Der Inhalt der Bildschirme sah nun anders aus. Einer zeigte immer noch diese Art von Text, die aussah, wie ein Gedicht. Der andere zeigte nun ein zweidimensionals Strategiespiel. Ihr fielen außerdem zwei Poster auf, die sie beim letzten Mal noch nicht bemerkt hatte. Das eine zeigte in altmodischem zweidimensionalen Stil einen blonden Ork schräg von hinten, der ein Orchester dirigierte, und sechs weitere, verschieden große Personen, die anscheinend sangen. Der Schriftzug “Träume der Dunkelheit” formte einen Bogen, der sich über das Orchester wölbte. Das Poster daneben war zwar dreidimensional aber in nur flacher Tiefe. Es zeigte einen Dunkelelb mit neongelb gefärbten Locken, einer ähnlichen Lockenfrisur, wie Merlin sie hatte, nur weniger zufällig. Diese Frisur wirkte, als sei jede Locke genau platziert worden. Er trug einen eng anliegenden Einteiler in schwarz mit neonorangenen Einsätzen, der seinen geschmeidigen, muskulösen Körper schön zur Geltung brachte. Auf dem Poster spannte er gerade einen Bogen und am Pfeil war ein Seil befestigt. Rechts unten stand ein Name, der wohl zu ihm gehörte: “Janke Sand”. Im Hintergrund war ein düsteres Schloss zu sehen.

“Setz dich doch!”, sagte Daina.

Es sah ein bisschen merkwürdig aus, wie sie sich Essen in den Mund tat, aber vom Essen war in der Virtualität nichts zu sehen. Myrie setzte sich auf eines der Sofas und sah Daina beim Essen zu.

“Aufgeregt?”, fragte diese zwischen zwei Bissen.

Myrie nickte.

“Das verbirgst du gut.”, sagte Daina.

Myrie fragte sich, ob das ein Kompliment sein sollte, oder eher neutral gemeint war.

“Ich sag mal Theodil und Gafur Bescheid. Dürfen die dich beide direkt mithören und sehen?”, fragte sie.

Myrie nickte erneut und fragte sich, ob das Bestätigung genug war, oder ob sie es aussprechen musste. Aber es reichte sogar Dainas indirekte Aussage, dass sie anrufen würde, denn wenige Augenblicke später meldete sich Theodils Stimme, er brauche noch ein kleines bisschen. Gafur dagegen brauchte etwas länger um sich zu melden, tauchte aber gleich ganz auf. Gafur war ein stämmiger Zwerg. Er trug eine Rüstung aus übereinander lappenden Karbonplatten und einen Helm, der zwar eine ähnliche Form hatte, wie Helme es im Mittelalter getan haben mochten, aber ebenfalls aus einem karbonartigen Material war. In der linken Hand hielt er eine doppelschneidige Axt. Myrie fragte sich, ob er linkshändrig war, oder ob er sie aus einem anderen Grund links trug. Seine Rüstung war zwar im Wesentlichen schwarz oder sehr tief dunkelgrau, aber an manchen Stellen stach dunkelrotes Leinen hervor, das gleiche Dunkelrot, was sein Haar und Bart aufwies. Haar und Bart waren sorgsam in dicken, weichen, symmetrischen Zöpfen geflochten, sodass die Masse an Haar zwar weiter stolz und mächtig wirkte, aber ihm nicht ins Gesicht fallen würde und auch, wenn er sich schnell oder hastig bewegen würde, nicht verrutschen würde.

“Gafur bin ich und du musst Myrie sein.”, sagte er. Myrie nickte.

“Gafur macht hauptsächlich Nahkampf.”, erklärte Daina. “Das ist also der, der sich vor uns stürzen wird. Er ist robust und kaum umzuschmeißen.”

“Ja, schon gut.”, sagte Gafur und winkte ab bevor er sich Myrie zuwandte. “Und du?”

“Äh”, sagte Myrie, stand auf und zögerte. War das jetzt so gemeint, dass sie über ihre Kampffähigkeiten erzählen sollte oder mehr allgemein. Und wahrscheinlich machte sie den ersten Eindruck nicht besser dadurch, dass sie gar nichts sagte.

“Daina meinte, du hättest sagenhafte Fähigkeiten.”, sagte Gafur und hob die Brauen.

“Hat sie auch.”, sagte Daina und half ihr aus. “Sie kann sehr gut klettern und hat eine grandiose Körperbeherrschung. Kampferfahren ist sie eher nicht so sehr.”

Quasi gar nicht, korrigierte Myrie in Gedanken.

“Hmm.”, machte Gafur und umrundete Myrie. “Muskeln hat sie immerhin, schätze ich, es sei denn, das ist alles designet.”

“Ist es nicht.”, sagte Daina.

“Nun, wir werden ja sehen. Willkommen im Team.”, sagte er als er seine Runde um sie herum beendete.

Myrie war zutiefst unbehaglich dabei zumute, so gemustert zu werden. Aber immerhin lenkte es sie von der Nervosität und Angst ab. Diese wurde durch eine andere Art Aufregung überschrieben. Myrie wünschte sich, es würde einfach endlich losgehen.

“Und was codest du gerade?”, fragte Gafur und wand sich nun Daina zu.

“Ich arbeite an einer Labyrinth-Virtualität. Es ist ein dreidimensionales Labyrinth, in jeder Richtung eingeteilt in Ebenen durch Längs- und Querschnitte. Die Ebenen können jeweils rotiert werden. Das Rotieren kann man durch Knöpfe im Labyrinth auslösen. Gänge setzen sich dann ganz neu zusammen.”, erklärte Daina.

Sie machte eine Geste und dort, wo vorhin ein Loch in der Wand gewesen war, öffnete es sich erneut und Myrie konnte von außen auf einen gigantischen Würfel schauen. Von Daina angeleitet drehte und wendete es sich, und es konnten sich, wie sie erklärt hatte, auch einzelne Ebenen oder Spalten drehen, ähnlich wie bei einem Zauberwürfel.

“Steht man dann auf dem Kopf?”, fragte Myrie, als sie beobachtete, wie sich eine der Spalten drehte.

“Würde man, aber in der zugehörigen Virtualität existiert, inspiriert durch unsere Experimentiererei, keine Schwerkraft.”, erklärte Daina und grinste Myrie zu.

Mit einer weiteren Geste wurden alle Wände grün und durchsichtig. Ein kleines Modell des großen Labyrinths schwebte in Dainas Händen und sie wählte dort verschiedene Raumelemente aus, die dann weniger durchsichtig waren als der Rest, blau eingefärbt wurden und so auch mitten drin betrachtet werden konnten. Jedes dieser Raumelemente war der Schnitt aus drei Ebenenscheiben, würfelförmig und hatte an Stellen, wo Würfel Augen haben konnten, Löcher, die durch Gänge miteinander verbunden waren. Teilweise waren in einem Stück mehrere getrennte Gänge, teilweise war es ein einziger sich verzweigender Gang, und manchmal eine Mischung aus beidem. Myrie bekam große Lust, darin herumzulaufen und sagte das auch.

“Da hast du ja wen gefunden.”, staunte Gafur und wendete sich dann wieder Myrie zu. “Ihre Virtualitäten sind so einfachen Leuten wie mir meist viel zu abgehoben und kompliziert. Ich würde Angst da drin bekommen, weil alles so eng ist und alles gleich aussieht.”

Aber dass es alles ähnlich aussah, machte es doch gerade angenehm, dachte Myrie. Einmal das Prinzip verstehen und dann eben puzzeln und rätseln.

“Du kannst da gern drin rumlaufen.”, sagte Daina. “Aber vielleicht erst, wenn ich da noch ein paar Sicherheiten untersucht habe.”

Myrie nickte und lächelte. Daina huschte zurück an den Schreibtisch und tippte ein wenig auf der monströsen Tastatur herum, worauf eine Reihe Buchstaben über den Bildschirm hagelte, definitiv deutlich mehr, als Daina getippt hatte. Daina scrollte darin herum, bevor sie durch mehrere Dateien von diesem gedichtartigen Text schaute, und hier und da ein paar Buchstaben änderte, und alles von vorn losging. In der Darstellung des Labyrinths leuchtete hin und wieder ein Raum blau oder rot auf, aber Daina sah gar nicht hin.

“Sie ist schon irgendwie cool, auch wenn es auf Dauer langweilig wird, ihr dabei zuzuschauen.”, murmelte Gafur.

Myrie wusste nicht, wann das eintreten sollte. Daina arbeitete fiebrig und begeistert und sehr konzentriert und es war ein Genuss dem zuzusehen.

“Ich wär dann soweit.”, sagte eine dunkle Stimme direkt hinter ihr und Myrie fuhr erschrocken herum.

Die Stimme gehörte zu Theodil. Theodil war ein Dunkelelb und Myrie fragte sich für einen Augenblick, ob es derselbe wie auf dem Poster war. Auch dieser Dunkelelb trug Pfeile und Bogen bei sich, beides auf den Rücken geschnallt, aber abgesehen davon unterschieden sich die Stile der beiden Dunkelelben sehr. Theodil hatte hellgraues, glattes Haar, dass in einem Nackenzopf zusammengefasst war, und trug praktische ebenfalls hellgraue Kleidung über seiner dunkelgrauen Haut, die mit allerlei Taschen versehen war, wie Myrie es mochte, und die keineswegs eng war oder Muskeln betonte.

Daina stand auf und kam zu ihnen herüber, hob etwas schwerfällig den Rucksack auf, den Myrie vorhin getragen hatte und reichte ihn Myrie, die ihn aufsetzte.

“Dann geht es los.”, sagte sie und mit diesen Worten änderte sich die Umgebung schlagartig.

Sie standen nun in einer Welt, wie sie Myrie noch nie zuvor gesehen hatte. Direkt neben ihnen erhob sich monströs ein Vulkan aus einer Art schwarzrotem Fels. Er qualmte bedrohlich und es wurde allmählich warm. Sie befanden sich auf einer Art unbefestigter Straße, die in den Vulkan hinein führte und in der anderen Richtung in der Ferne auf einen anderen Vulkan zusteuerte. An der Straße lag links und rechts etwas Geröll, aus dem an manchen Stellen die ein oder andere seltsame lila Pflanze herauswucherte, und bildete die Grenze zu einem gähnenden Nichts. Es war stockfinster. Vom anderen Vulkan aus konnte Myrie ein orange leuchtendes Rinnsal Lava sehen, dass herunterfloss und in die Tiefe stürzte, sich dort verlor.

Die Straße führte offenbar durch den Vulkan hindurch und auf der anderen Seite weiter. Myrie konnte gerade so erkennen, dass sie weit dahinter etwas links versetzt in einen weiteren Vulkan zu führen schien, aber sie war sich nicht ganz sicher, denn eine künstliche, flimmernde Diesigkeit machte das Bild in der Entfernung unscharf. Ein trockener Wind wehte, es roch etwas nach Gestein, aber nicht so gut, wie im Treppenhaus zur Schule. Es war eine angenehm stille Umgebung.

“Hast du schonmal Schatzvulkan gespielt?”, fragte Gafur.

Myrie schüttelte den Kopf.

“Aber du hast einen Plan, worum es geht?”, fuhr er fort zu fragen. Myrie zögerte. Eigentlich hatte sie keinen.

“Das muss man ja auch nicht so genau wissen.”, warf Daina ein. “Die Vulkane, die du dort siehst, liegen hinter uns. Das sind sozusagen alte Etappen. Unsere heutige Etappe ist dieser hier. Ziel ist, darin einen Schatz zu finden, und den Ausgang auf der anderen Seite. Es ist Etappe 4 von 17.”

Myrie nickte langsam.

“Wollen wir rein?”, fragte Gafur.

“Klar!”, sagte Daina und Theodil nickte.

Myrie nickte auch, als sie erwartungsvolle Blicke auf sich spürte. Sie traten durch den Eingang und sofort wurde es noch wärmer. Noch einmal wunderte sich Myrie darüber, dass Gafur Dainas Labyrinth als eng und beängstigend empfand, als sich ihr der sehr schummrige, enge Gang offenbarte. Aber dieses hier schien ihm nichts auszumachen.

Sie gingen oder schlichen vielmehr eine Weile den Gang entlang. Er wand sich mal in die eine, mal in die andere Richtung, bis er sich gabelte. Inzwischen war es stockfinster hier drin. Daina hatte zwei Öllampen aus Myries Rucksack geholt, wovon nun Gafur vorweg und Daina neben Myrie das Schlusslicht bildend, jeweils eine trugen.

Sie bogen zunächst in die rechte Gabelung, doch bald war der Weg durch Geröll versperrt.

“Die machen es einem ja dieses Mal einfach.”, murmelte Gafur leise.

“Freu dich nicht zu früh.”, riet Daina in ebenfalls leisem Gemurmel.

Sie kehrten um und folgten der anderen Gabelung, doch auch dieser Weg war versperrt, allerdings durch einen Lavasee, der die Lampen überflüssig machte. Das erste Mal in dieser Virtualität konnte Myrie deutlich sehen. Der See vor ihnen schloss mit den Wänden ab und blubberte in leuchtendem Orange vor sich hin. Der Farbton war fast der gleiche wie der der Haare vom Dunkelelben auf dem Poster in Dainas Zimmer. Die Wände waren aus schwarzem Felsgestein mit roten Linien darin, durchzogen von Felsspalten, manchmal hervorstehendem Gestein und manchen Vertiefungen. Manche Felswände in Byrglingen hatten durchaus eine ähnliche Struktur.

“Wollen die uns vereimern?”, fragte Gafur nicht mehr ganz so leise wie vorhin.

Myrie achtete kaum auf ihn. Sie schritt an den Rand des Ganges und betastete die Wände, fühlte nach, ob alles fest war oder ob lose Gesteinsbrocken da waren, bis sie sich ein Bild gemacht hatte. Als sie glaubte, eine genügend genaue Einschätzung über den Rest der Felswände machen zu können, krallte sie ihre Zehen auf eine hervorstehende Stelle in Kniehöhe und schwang sich hoch, dicht an die Wand gelehnt.

“Ist sie übermütig geworden?”, murmelte Gafur.

Myrie überlegte, ob sie darauf eingehen sollte, ob den anderen ihr Vorhaben zu unsicher wäre. Aber solange sie nicht über dem Lavasee wäre, sondern davor blieb und kaum einen Meter über dem Boden herumprobierte, konnte doch nichts passieren, oder?

Vor allem der Rucksack machte das alles nicht einfach. Vorsichtig kletterte sie in den kleinsten Abständen, die die Wand zuließ, an der Wand entlang in Richtung Lavasee, bis sie dessen Wärme spürte. Dann sah sie sich zu den anderen um. Gafurs Miene war unergründlich. Theodil lächelte ein bisschen und nickte Daina zu. Daina hob einen Daumen und freute sich offensichtlich. Ohne weiter zu überlegen, vielleicht weil sie Dainas Freude so anfeuerte und mit Energie auflud, kletterte sie an der Wand entlang über den See, bis sie auf der anderen Seite wieder festen Boden unter den Füßen bekam.

“Vorsicht!”, schrie Daina und Myrie blickte zu ihr über den See, doch das war ein Fehler. Sie wurde kräftig von hinten geschubst und stolperte in den Lavasee.

Angenehme Hitze durchströmte sie. Natürlich würde sie sich hier nicht weh tun. Noch etwas vom Schock gelähmt, sackte sie durch zähe, schwere Masse ab, und um sie herum wurde alles leuchtend Rot. Die schon altbekannte Restluftanzeige tauchte auf. Das war also auch nicht semirealistisch. Sie konnte hier atmen, wie sie feststellte. Das wäre aber auch schwierig zu verwirklichen, das unmöglich zu gestalten. Die Virtualität konnte einem ja schlecht die Luft anhalten, oder Wasser oder Lava in die Nase spülen. Bei dem Gedanken, Lava in die Nase gespült zu bekommen, besann sie sich und schwamm mühsam an die Oberfläche.

“Schwimm an den Rand und roll dich über den Boden, schnell!”, kreischte Daina panisch. Wahrscheinlich hatte sie schon länger geschrien, aber Myrie hatte sie unter der Lavaoberfläche nicht hören können.

“Wenn unsere Sachen verbrennen, das wär’ echt scheiße.”, rief Gafur.

Theodil sagte nichts, aber ein Pfeil sauste über Myrie hinweg und senkte sich mit einem dumpfen Plöppen irgendwo hinein. Sie hörte, wie jemand oder etwas hinter ihr strauchelte und hinfiel. Sie selbst setzte alles daran, Dainas Rat zu befolgen, wirbelte herum und schwamm mit einem Schwimmzug, der ihr ungewöhnlich schwer fiel, weil die Lavamasse ja deutlich zäher war als Wasser, an den Rand, und zog sich mit aller Kraft hinaus. Dann wälzte sie sich mit dem Rucksack zusammen über den Boden, bis sie nicht mehr qualmte und blieb liegen. Sie hörte sogar über den Lavasee hinweg, wie Daina erleichtert ausatmete.

“Myrie, ich hatte gehofft, wir brauchen die nicht so früh am Anfang, aber du hast am Gürtel Fläschchen. Richte dich auf, nimm die erste von der Mitte aus links und schütte den Inhalt in deinen Mund.”, rief Daina.

Myrie folgte der Anweisung. “Heiltrank” stand darauf.

Es war seltsam, sich das Fläschchen an den Mund zu setzen. Sie spürte nichts, nur in der Hand fühlte sie den Widerstand. Sie spürte nichts, weil sie keine EM-Gesichtsmaske trug. Ihr EM-Anzug war ein Kapuzenanzug, der aber das Gesicht freiließ, weil sie es nicht mochte, Stoff im Gesicht zu haben. Aber natürlich bildete die Virtualität ein Modell ihres Gesichtes nach, dass sie mit den Fingern spüren konnte, und das auch gegen etwas gegen stoßen konnte, nur eben spürte sie davon nichts mit ihrem Gesicht.

“Puh, das wäre gerade noch einmal gut gegangen.”, seufzte Daina.

“Und wie kommen wir nun darüber?”, fragte Gafur.

Myrie sah zu den anderen hinüber und schätzte ihre Gewichte ab. Dabei fiel ihr Blick auf Theodil, der sich nicht vom Gespräch ablenken ließ, sondern konzentriert und ruhig zu ihr herüber schaute, einen Pfeil auf der gespannten Sehne, jederzeit bereit, weitere Angreifende zu beschießen. Das brachte Myrie dazu, überhaupt einen Blick in die Richtung zu werfen, aus der der Angriff kam. Es war eine Art Troll, nur kleiner, nämlich nur eineinhalb Mal so groß wie sie, und ganz in dunkelrot und ein wenig durchsichtig. Die Haare waren wie dunkles Feuer. Aus seiner Brust ragte einer von Theodils Pfeilen.

“Kannst du den Pfeil ziehen und in den Rucksack stecken?”, fragte Theodil. Sein Ruf war wesentlich leiser als der der anderen, gezielt gerade so laut, dass Myrie ihn hören konnte, und ruhig und entspannt.

Myrie setzte den Rucksack ab, zog am Pfeil, dessen Spitze sie durch den durchscheinenden Körper sogar verschwommen sehen konnte. Er löste sich mit einer Art leisen Schmatzen, das Myrie spannend fand, weil sie den Eindruck hatte, dass dies auch zum Semirealismus gehörte. Aus Filmen, die die Zwillinge gern sahen, kannte sie da ganz andere laute Geräusche, die ihr immer übertrieben vorgekommen waren, als seien sie nur dafür gemacht, dass Leute sie eklig empfanden. Myrie allerdings hatte sie nie eklig sondern eher unpassend und dadurch störend empfunden. Sie schob den Pfeil in den Rucksack durch die obere Öffnung irgendwo an die Seite, ohne ihn aufzumachen. Dann blickte sie zurück, wo Gafur und Daina darüber diskutierten, wie sie rüberkommen sollten, zumindest soweit Myrie das aus den wenigen Worten, die bis zu ihr herüberdrangen, beurteilen konnte.

“Ich könnte euch tragen.”, rief sie rüber.

Sie versuchte, es Theodil nachzuahmen, und nicht mehr Lautstärke zu verwenden, als notwendig. Doch sie hatte sich verschätzt. Daina und Gafur hörten offenbar nichts davon, doch Theodil, der Myrie zumindest beim Sprechen beobachtet hatte, tippte die beiden an. Als sie schwiegen, wiederholte Myrie den Vorschlag etwas lauter. Auch dieses mal war es nicht laut genug, denn nur Theodil hatte sie verstanden, der es für die anderen beiden wiederholte.

“Nicht nötig, wir haben uns auf eine andere Lösung geeinigt.”, rief Daina.

Sie beschrieb Myrie, wo sie im Rucksack nach einigen Schraubösen und einem Stahlseil suchen sollte und beriet kurz, wie viele von den Ösen wohl notwendig wären. Sie entschieden sich für 4. Myrie kletterte den selben Weg zurück, den sie gekommen war, bloß dieses Mal ohne Rucksack und mit den Schraubösen und dem Stahlseil. Die Schraubösen hatten einen kräftigen Selbstschraubmechanismus: Wenn Myrie sie mit ihrem Spitzen Ende auf die Felswand schlug, bohrten sie sich mit einem hämmernden Geräusch in die Wand hinein. Am praktischsten wäre es gewesen, in Schrittweite diese Ösen einfach in die Wand zu schrauben und auf das Seil zu verzichten, aber Gafur hatte eingewandt, dass sie nicht unendlich viele davon hatten, und dass dies vielleicht nicht die letzte Wand wäre. Stattdessen wollten sie das Seil hindurchfädeln, an dem sie sich dann entlang hangeln würden. Sie konnten es hinterher wieder entfernen, und so Material sparen.

Als Myrie die dritte Öse in die Wand schlug, hörte sie das erste Mal Nervosität in Theodils Stimme.

“Baumgeister.”, sagte er, in eben jener minimal notwendigen Lautstärke, mit der Myrie ihn gerade hören könnte.

Dieses Mal drehte sie sich in die ihm abgewandte Richtung, und sah weit entfernt, wie grünlich sachte Leuchtendes in ihre Richtung schwebte. Die konnten schießen, erinnerte sie sich. Sie wusste nicht, von wie weit weg sie das konnten. Sie überlegte, dass es wohl eine gute Strategie war, sich so weit, wie möglich von der Wand wegzulehnen, damit sie, sobald sie schossen, Raum hatte, auszuweichen, indem sie sich wieder anlehnte. Aber viel Raum war das nicht und weggelehnt zu klettern war anstrengender. Sie hörte Gemurmel von der anderen Seite, wo ihre Begleitenden waren, und konnte nicht anders, als sich umzuwinden. Daina hielt nun einen Stab in der Hand, vielleicht so lang wie ihr Unterarm und daumendick, den sie in einer Bewegung schwang, die eine Mischung aus Dirigieren und Tanz war. Dazu murmelte sie und bewegte sich schwingend und eine Art silbrige aber durchsichtige Kugel explodierte plötzlich aus dem Stab. Der Raum war zu klein für die Kugel, sie breitete sich rasch aus, sodass die Kugel zu Teilen in den Wänden verschwand und nur noch ein Teil der Kugelfläche sichtbar war, der sich in diesem Raum befand. Kurz vor ihr hielt die Explosion inne.

“Ein Stückchen weiter, noch ein Stückchen!”, rief Gafur aufgeregt und nervös.

Da sirrte ein erster Pfeil an Myrie vorbei, prallte an der Kugeloberfläche ab und plumpste in die Lava. Myrie überlegte, dass das nun ziemlich wenig mit Semirealismus zu tun haben mochte. Theodil beantwortete den Pfeil und seiner schwirrte problemlos aus der Kugel hinaus, traf einen der Baumgeister, der zu Boden stürzte. Daina hatte die Augen geschlossen, murmelte weiter und wirkte sehr konzentriert. Myrie überlegte, dass es wohl auch vorteilhaft wäre, wenn sie näher an die Kugel herankäme, beendete ihr Werk mit dem Haken und kletterte auf die Kugel zu, doch sie spürte massiven Widerstand.

“Es muss von ihr ausgehen.”, sagte Theodil, der erneut einen Pfeil verschoss.

Ein weiterer Pfeil kam von der Gegenseite, aber verfehlte sie um Längen. Es war der Baumgeist, den Theodil getroffen hatte, der dadurch den Bogen im Sturz nach oben gerissen aber noch entspannt hatte.

Dann, endlich stülpte sich die Blase auch um Myrie und sie fühlte sich sofort sicherer.

“Beeil dich trotzdem. Erfahrungsgemäß kann sie das nicht lange in der Dimension aufrecht halten.”, rief Gafur und Myrie beeilte sich.

Sie kletterte so schnell, wie sie es eben vermochte, wenn sie dabei noch darauf achtete, garantiert nicht herunterzufallen. Und die Sicherheitsblase schrumpfte eben so zusammen, dass Myrie immer noch gerade darin Platz fand. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, zitterte sie vor Aufregung und Anspannung. Sie fragte sich, was Daina in der Realität für diesen Schutzzauber tun musste. Sie wirkte furchtbar konzentriert und zitterte ebenfalls etwas. Es musste irgendwie irgendetwas an ihr gemessen werden, das mit Gedanken zusammenhing, mutmaßte Myrie. Aber wie weit war das von dem Gedankenlesen durch Maschinen entfernt, vor dem Omantra sie gewarnt hatte? Sie würde das Daina vielleicht später fragen. Vielleicht war es auch nur die Präzision, die gemessen wurde, mit der sie Auswendiggelerntes aussprach und sich mit ihrem Stab bewegte. Vielleicht war es etwas, was in einer Art Konzentration beanspruchte, wie Puzzle-Teile durch Malen herzustellen, die zusammenpassten, wie die, die sie damals in ihrer ersten Schneeflockenunterrichtseinheit gemalt hatte. Aber mehrere von solchen Aufgaben gleichzeitig vermutlich.

Es hatte etwas sehr Besänftigendes, ihr zuzusehen.

“Myrie hörst du überhaupt zu?”, fragte Gafur.

Vage nahm sie in ihrer akustischen Erinnerung der letzten Momente wahr, dass sich Gafur und Theodil unterhalten hatten, aber sie bekam keinen Inhalt rekonstruiert und schüttelte den Kopf. Gafur stöhnte genervt auf.

“Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass Gafur auf die andere Seite muss. Er hat die Axt und ich habe nicht genügend Pfeile.”, sagte Theodil gelassen, als redete er über so etwas wie Putzen, oder etwas anderes, was nur sachlich geklärt werden musste, aber eher langweilig war. Die Stimmung der beiden war so konträr zueinander, dass Myrie das beinahe witzig fand, aber sie verkniff sich ein Grinsen.

“Nur würde ich auf dem Hinweg vermutlich erschossen, daher müsste der Schutz irgendwie mit. Kannst du gleichzeitig klettern, Daina?”, fragte Gafur.

Daina schüttelte den Kopf.

“Sie kann nicht reden, weil sie sich so konzentrieren muss, aber Zeichen kriegt sie meist noch hin.”, erklärte Gafur sich an Myrie richtend.

“Kannst du sie tragen, ohne dass sie sich an dir festhält?”, fragte Theodil sie.

Myrie sah Dainas Haltung an. “Wie genau muss ihre Haltung erhalten bleiben?”, fragte sie. Als Antwort beugte Daina sich vor, bis sie mit dem Kopf nach unten hing, aber die Arme immer noch ausgebreitet hatte und richtete sich dann wieder auf. Myrie nickte.

“Gut. Dann klettere ich vor, du trägst Daina und kletterst direkt hinter mir und am Schluss kommt Theodil nach.”, beschloss Gafur und steckte sich seine Axt in den Gürtel.

Myrie zögerte. Sie war unsicher, wie sie Daina anfassen sollte, oder wie doll sie durfte, da kam Daina schon auf sie zu. Es war etwas geisterhaft, wie sie dies mit dem steifen Oberkörper, den ausgebreiteten Armen und dem konzentrierten und abwesend wirkenden Gesichtsausdruck tat, während sie außerdem noch leise Unverständliches vor sich hinmurmelte. Als sie Myrie berührte, ging Myrie in die Hocke, schloss ihren linken Arm fest um Dainas Körper knapp unterhalb ihres Becken, sodass Daina ihr, als sie wieder hochkam, leicht geneigt über der Schulter lag.

“Wird langsam gehen.”, sagte sie.

Daina war zwar nicht schwer und zum Glück auch eher klein, kleiner als Ahna, aber doch ziemlich unhandlich in dieser Haltung. Dazu kam erschwerend hinzu, dass Myrie nur mit einer Hand klettern konnte, und dann auch noch nicht dicht an der Wand, weil ja Dainas Körper zwischen ihr und Wand sein würde, was den Hebel vergrößerte. Aber wenigstens war das Stahlseil installiert, dass einen besseren Griff ermöglichte, als die rohe Wand. Und so kletterten sie los. Es war mühsam. Schon nach nur einem Zehntel der Strecke wünschte sich Myries Körper sehnlichst, dass es vorbei wäre. Also forderte sie ihn zum zweiten Mal an diesem Tag stärker heraus, als sie es sonst je getan hätte. Um sich vom Unwohlsein abzulenken, dachte sie über die Aufregungen der vergangenen Woche nach, und wie sie mit dem Problem umgehen sollte, dass Ahna sie so vermisste. Morgen würde sie vermutlich den halben Tag für sich brauchen. Es war zwar schön, Kontakt zu Leuten aufzubauen, die sie irgendwie schätzten, wie Daina und Merlin, aber auch extrem anstrengend. Das waren so widersprüchliche Bedürfnisse. Wenn Daina nun jeden Tag so eine Etappe mit ihr spielen wollte etwa, dann hätte sie ein Problem. Sie wollte auf der einen Seite gern herausfinden, wohin diese Bekanntschaft führte. Ob sie tatsächlich Herzwesen werden würden und wie so etwas wie eine Freundschaft funktionierte. Auf der anderen Seite konnte sie sich einfach nicht vorstellen, keine Zeit mehr nur mit sich allein zu verbringen. Es fühlte sich beengt an mit anderen. Als wäre der Raum physisch kleiner, wenn andere mit darin waren. Selbst, wenn es ein beinahe unendlicher Raum war. Obwohl, dieser Morgenspaziergang mit Merlin, das war schon sehr schön und entspannt gewesen.

Wen mochte sie eigentlich lieber, Daina oder Merlin? Spontan dachte sie sofort Merlin. Obwohl sie inzwischen mehr mit Daina erlebt hatte und mehr Zeit mit ihr verbracht hatte, gab es Komponenten an Daina, die sich ihr nicht erschlossen, die sich sehr wenig vertraut anfühlten. Zu unruhig irgendwie. Merlin dagegen war immer ruhig und wirkte übersichtlich. Sie hatte beinahe den Eindruck, Merlin verstanden zu haben. Aber warum dem so war, das erschloss sich ihr nicht. Eigentlich hatte sie eher mehr Informationen über Daina als über Merlin. Vielleicht war es, dass Merlin ihr über sein Herzwesen erzählt hatte, und dabei über Gefühle frei und offen gesprochen hatte, wogegen Daina sie eher mit Informationen überflutete, die mit Gefühlen nichts zu tun hatten. Interessanten Informationen zwar, oder Rätseln oder mit anderem, aber eben Dinge, die immer gleich ganz viel waren irgendwie.

“Stopp.”, sagte Daina hinter ihr bestimmt und energisch, was Myrie aus ihrer Gedankenwelt riss.

Hatte sie etwas falsch gemacht? Die Blase flackerte kurz, aber richtete sich dann wieder her. Myrie sah, wie Gafurs Hand nur wenig vor ihrer Schulter inne hielt. Er war schon vom Seil heruntergestiegen und Myrie hatte vergessen, sich weiterzubewegen, als sie das Ende des Seils erreicht hatte.

“Wenn sie sich nicht rührt…”, murrte er.

Myrie stieg nun auch wieder auf den Boden und stellte Daina ab. Sie verzog vor Schmerz das Gesicht, als sie sich wieder gerade aufrichtete. Ihr ganzer Körper tat weh.

“Schulter den Rucksack und es geht weiter!”, rief Gafur ungeduldig.

Myrie wollte sich schon zum Rucksack bewegen, als Theodil die Hand hob.

“Lass sie kurz hier ausruhen, während wir diesen Abschnitt erledigen.”, sagte Theodil.

Daina vergrößerte die Blase so, dass sie den Gang einnahm und kein Geschoss zu Myrie durchdringen konnte, selbst wenn sie nicht in der Blase war. Der Gang hier war schmaler als auf der anderen Seite und es schien ihr nicht vermehrt Mühe zu kosten, meinte Myrie zu erkennen, auch wenn sie das eigentlich gar nicht richtig beurteilen konnte.

“Leg dich ruhig kurz hin.”, sagte Theodil.

“Ja, geht eigentlich auch, hast du recht. Sie wäre da bestimmt auch nicht hilfreich. Dachte nur, dann können wir gleich weitergehen, wenn sie dicht bei uns ist.”, sagte Gafur und blickte zum Rucksack.

Theodil sagte nichts weiter dazu, sondern drängte sie voran. Er stand stets dicht mit Pfeil und Bogen bewaffnet schräg hinter Daina, Gafur verließ die Blase nach vorn hin und fing an, mit seiner Axt auf die Baumgeister einzuschlagen. Ihre Pfeile rutschten teils an der Rüstung ab, oder aber trafen ihn nicht, weil er geschickt in den richtigen Augenblicken auswich oder weil Theodil sie vorher erwischte. Ein Pfeil bohrte sich jedoch durch sein Fußgelenk, das dadurch steif wurde und ihn leicht behinderte. Theodils Kampfstil wirkte ruhig und effizient. Er schoss sehr gezielt, traf oft mehrere gegnerische Charaktere gleichzeitig, oder aber angreifende Baumgeister, die andernfalls Gafur getroffen hätten.

Das sah langwierig aus, und Myrie nahm Theodils Vorschlag an und legte sich hin. Sie hielt sich die Ohren zu, um den Kampflärm weniger zu hören und schloss die Augen, bis viel zu schnell Daina neben ihr stand und rief, sie solle die Finger aus den Ohren nehmen.

Myrie gab Gafur eines der Fläschchen an ihrem Gürtel, um das er sie bat, stand auf, fühlte sich wie eingerostet. Während Gafur heilte, machte sie ein paar Übungen um wieder warm zu werden und ein paar Dehnübungen, damit sie nicht noch mehr verspannte und schulterte den Rucksack, damit sie weitergehen konnten. Bis hierher hatte sie durchaus Spaß gehabt, aber nun war sie erschöpft und hoffte, dass nicht mehr viel kam. Allerdings hatte sie das Gefühl, dass sie eigentlich noch gar nicht weit gekommen waren, und sie noch eine ganze Weile mit hoffen beschäftigt sein würde.

Es stellte sich jedoch heraus, dass die Überwindung des Lavasees der kürzere Weg zum Erreichen ihres Ziels war. Daina meinte, dass die meisten vermutlich den anderen Gang gezielt versucht hätten freizusprengen, und wenn das misslungen wäre, eher mit Geröll von drüben einen Weg über den See gebaut hätten und ihn so überwunden hätten. Da der See aber recht tief war, wie sie durch Myries Badeaktion festgestellt hatten, wäre es sehr viel langwieriger geworden.


Myrie war inzwischen sehr müde, und es gab keine aufregenden Probleme mehr, die sich durch Klettern lösen oder vereinfachen ließen, abgesehen von dem Abseilen in einen Schacht am Ende, wodurch sie den Ausgang erreichen konnten. Auf diese Weise verlief der Rest der Etappe für sie ein wenig wie im Traum. Sie blieb stets hinter den anderen. Auch den Schatz, der einfach aus einer neongrünen Münze bestand, fand sie uninteressant. Der Abschied war seltsam. Sie wusste auch nicht so genau, wie so etwas ging, und war zu müde, um sich nun darüber Gedanken zu machen.

Tatsächlich war es nach Mitternacht, als sie die Virtualität endlich verließ. Ihr schmerzten besonders die Arme, also duschte sie noch abwechselnd kalt und warm, bevor sie sich ins Bett legte. Die Dusche hatte sie auch bitter nötig gehabt. Sie hatte heftig geschwitzt auf diesem Abenteuer und das wunderte sie gar nicht. Und obwohl sie innerlich noch sehr aufgewühlt war, was sich in ihrem Körper widerspiegelte, schlief sie doch rasch wie ein Stein.