Omantra
Myrie war fünfeinhalb Jahre alt, als zwei Ereignisse ihr Leben veränderten:
Ihre Großmutter starb mit 111 Jahren. Das war eigentlich kein Alter. Üblicherweise wurden Zwerge bis zu 300 Jahre alt, die meisten mindestens 250, wenn sie nicht eines unnatürlichen Todes starben, und unnatürliche Todesarten waren sehr selten. Üblicherweise erlebten Ururgroßmütter ihre Ururenkel, hatten aber keinen oder kaum Kontakt zu ihnen. Meist lebten zwei bis drei Generationen bei einander, bevor Kinder fortzogen und ihre eigene Familie gründeten, oder in WGs mit ihren Lieblingspersonen zusammenwohnten, ohne eine Familie zu gründen. Das Resultat war, dass üblicherweise Zwerge erst im Alter von vielleicht 50 oder gar 100 das erste Mal mit dem Thema Tod ohne Respawn konfrontiert wurden.
Natürlich gab es immer mal wieder Ausnahmen. Familien, die doch über so viele Generationen beieinander wohnten zum Beispiel. Oder Fälle, in denen eine WG aus sehr jungen und sehr alten Leuten entstand. Es gab ab und an Suizide. Und es gab auch selten einmal einen Unfall, besonders bei Leuten, die gern risikoreich lebten.
Dennoch waren Kinder mit fünfeinhalb noch nicht unbedingt darüber aufgeklärt, was es mit Tod ohne Respawn auf sich hatte. Und Myrie hatte höchstens am Rande mal davon gehört.
Myrie saß mit ihren drei Geschwistern und mit ihrem Papa beim Mittagessen am Wohnzimmertisch, als sie davon erfuhr. Der Tisch war, wie die meisten Möbelstücke in diesem Haus, aus dunklem Vollholz und glänzte ein wenig. Seine vier Beine waren nicht gleich lang und er kippelte.
“Oma Lorna ist gestorben. Gestorben ohne Respawn.”, hatte ihr Papa gesagt. “Das heißt, wir werden sie nie wieder sehen, nicht hier und in keiner Virtualität.”
Er sah verstört aus, fand Myrie. Und das verstand sie gut. Sie versuchte sich das vorzustellen, Oma Lorna nie wieder zu sehen und es war merkwürdig und fühlte sich nicht gut an. Sie mochte Oma Lorna. Sie erzählte immer schöne Geschichten. Sie hatte immer schöne Geschichten erzählt, korrigierte sich Myrie in Gedanken. Und auch das fühlte sich seltsam an.
Es schneite draußen. Es war Herbst, der Boden war schon seit einer Woche gefroren und es war der erste Schnee, der liegen blieb. Winzige, weiße Flöckchen huschten leicht am Fenster vorbei. Myrie löste ihren Blick, der dieses Mal besonders an dem Gestöber da draußen klebte, und ging in ihr Spielzimmer. Es war ein kleiner, kahler Raum, dessen Wände ein Netz aus Drähten zierte.
“Ozean. Mit Luft.”, sagte Myrie, schob ihre VR-Brille auf die Nase und die weichen Kopfhörer über die Ohren.
Der Raum verschwand und stattdessen sah sie überall nur noch Wasser. Mächtige Wellen, blauen Himmel mit ein paar Wolken, ein gewaltiges Rauschen. Eine Welle hob sie vom Boden ab, und sie schwamm im Ozean. Sie hätte mit den Armen rudern müssen, um nicht unterzugehen, aber das wollte sie gar nicht. Sie ließ sich etwas unter die Wasseroberfläche sinken. Die Strömung strich angenehm kühl über ihre Haut. Sie drehte sich so, dass ihr Kopf schräg nach unten schaute und schwamm langsam beschleunigend nach unten. Es wurde immer dunkler und stiller. Und die Anzeige, wie viel Luft sie zur Verfügung hatte, zeigte immer weniger an. Sie konnte sich kaum mehr daran erinnern, die Anzeige aktiv gehabt zu haben. Sie musste sie viel früher einmal deaktiviert haben, aber eine verblasste Erinnerung an etwas, was passierte, wenn sie leer war, motivierte sie, sie dieses mal wieder zu aktivieren.
Die Luftzeile blinkte auf, bevor sie ganz zur Neige ging, und das stresste sie. Sie wollte es dennoch und als die Anzeige endgültig leer war, konnte sie nicht mehr aktiv weiterschwimmen. Ihr Rumpf war fixiert, nur ihre Gliedmaßen und ihren Kopf konnte sie frei bewegen. Es war durchaus eine angenehme Haltung, fand Myrie. In gut erreichbarer Entfernung erschien der Respawn-Button, er kündigte sich mit einer elektronischen Stimme an, die “Respawn” sagte. Darunter erschien ein kleiner Text, der ebenfalls vorgelesen wurde:
“Bitte probier dies nicht in der Realität. Für weitere Information klicke hier oder sage ‘Weitere Information’.”
Sie konnte sich daran erinnern, diesen Text schon oft gehört zu haben, aber dennoch hatte sie niemals zuvor um weitere Information gebeten. Sie konnte sich, um ehrlich zu sein, auch nicht daran erinnern, wann sie ihn das erste Mal gesehen hatte, oder an ihr erstes Mal Tauchen im Ozean. Der Ozean war ihre Lieblingsvirtualtität, wenn sie allein sein wollte. Sie tauchte meist so tief, bis es bedrückend still war, und sie das Gewicht des Wassers auf sich spürte, und um sie herum vereinzelnd fluoreszierende Wesen still und faszinierend schön umherschwammen.
“Weitere Information.”, sagte Myrie. Ein längerer Text erschien auf transparentem, dunklem Hintergrund, sodass er guten Kontrast hatte und sie dennoch das Wasser dahinter sehen konnte, auch wenn es dort nicht viel zu sehen gab. Und wie immer wurde ihr der Text gleichzeitig vorgelesen. Myrie konnte noch nicht so gut lesen.
“Tauchen in der Realität: Auch in der Realität gibt es Gewässer. Seen, Flüsse, Meere und sogar Ozeane. Im Unterschied zur Virtualität ist es unter Wasser jedoch notwendig die Luft anzuhalten, damit kein Wasser in das Atmungssystem eindringt. Willst du testen, wie lange du die Luft anhalten kannst?”
Das Vorlesen wurde unterbrochen, sodass Myrie antworten konnte.
“Ja”, sagte Myrie.
“Hole tief Luft, halte die Luft an und halte deinen Finger unter die Nase.”, sagte die elektronische Stimme.
Myrie atmete erst tief aus, dann ein, hielt die Luft an und ihren behandschuhten Finger unter die Nase. Sie zählte leise im Kopf und war dankbar, dass der Text nicht weiter vorgelesen wurde, während sie damit beschäftigt war, sich zu konzentrieren. Als sie bei 74 angekommen war, fing es an, sich unangenehm anzufühlen und bei 79 atmete sie aus.
“83 Sekunden1.”, sagte die Stimme und machte eine kurze Pause, bevor sie mit dem Text fortfuhr.
“Die Luftbar in der Ozeanvirtualität hält 100 Sekunden. Nehmen wir an, du würdest länger tauchen, als du die Luft anhalten kannst, so würdest du Wasser einatmen müssen. Das Wasser würde dann durch die Atemwege in die Lunge gelangen und kann zum Tod ohne Respawn führen. Für das Tauchen in der Realität ist daher viel Übung der Luftkontrolle notwendig. Es empfielt sich daher nicht, in der Realität zu schwimmen oder zu tauchen, oder es sehr vorsichtig und unter genauer Anleitung zu erlernen. Ist es dein Wunsch in der Realität schwimmen zu lernen, so ist es ratsam, an einem durch eine erfahrene Person beaufsichtigten Kurs teilzunehmen oder, wenn du etwas älter bist, dich durch eine Lern-KI unterrichten zu lassen. Möchtest du eine Zusammenfassung weiterer Probleme des Tauchens und Schwimmens in der Realität hören, Ausführlicheres darüber erfahren, über Tod ohne Respawn informiert werden oder das Menü verlassen?”
“Zunächst eine Zusammenfassung über weitere Probleme des Tauchens in der Realität und dann über den Tod ohne Respawn.”, sagte Myrie. Ihre Stimme kam ihr selbst unsicher vor.
“Dein Puls ist erhöht. Deine Themenauswahl ist ungewöhnlich. Hast du einen Verlust erlitten?”, fragte eine andere, neue Stimme, während sich eine neue Seite Text öffnete. Die neue Stimme klang weniger elektronisch als die erste, beinahe vertraut. Sie klang in Myries Ohren weiblich und warm und obwohl sie auf der einen Seite überhaupt nicht ähnlich schien, erinnerte sie sie auf der anderen Seite an Oma Lorna. Und Myrie mochte das alles nicht. Ihr gefiel das nicht, dass da eine Stimme war, die so wirkte, als würde sie sich um Myrie kümmern. Eine Stimme in einer Welt, in die Myrie sich verzog, wenn sie allein sein wollte. Die elektronische Stimme, die Text vorlas, war charakterlos und rein informativ. Das war in Ordnung. Aber eine Stimme, die persönliche Fragen stellte, das war nicht in Ordnung.
“Geh weg.”, sagte Myrie barsch. Die Stimme sagte nichts mehr, und Myrie hoffte, dass das bedeutete, dass sie weg war. Die andere Stimme hatte angefangen, den Text vorzulesen und Myrie hatte nicht richtig aufgepasst, weil sie so aufgewühlt war. Daher startete sie das Vorlesen neu:
“Weitere Gefahren des Tauchens in der Realität in zivilisationsnahen Gebieten sind vorwiegend durch die realen Temperaturen gegeben. Durch eine Schutzfunktion kann die Wassertemperatur hier in der Virtualität niemals kälter als 8°C werden. Auch wird die Temperatur in der Virtualität erhöht, wenn du zu lange frierst. Beides ist in der Realität nicht gegeben. Gewässer behalten ihre Temperatur auch dann bei, wenn die badende Person darin anfängt zu frieren und die Temperatur von Wasser ist abhängig vom Salzgehalt lediglich durch den Gefrierpunkt bei 0°C beschränkt, ab welcher Temperatur Wasser zu Eis wird.”
Das wusste Myrie eigentlich schon, weil sie ab und an ihre Füße in die Glukka gehalten hatte und manchmal dazu die Eisdecke durchbrochen hatte.
“Die Glukka in Byrglingen hat zur Zeit eine Temperatur von 4°C. Längeres Baden in der Glukka ohne vorheriges Training würde zur Unterkühlung und zu starken Schmerzen führen und kann zu längerfristigen oder irreparablen Schäden am realen Körper führen, sowie in extremen Fällen zum Tod ohne Respawn.”
“Man kann das trainieren?”, fragte Myrie sich überrascht.
“Ein solches Training könnte ich auf deine Bedürfnisse anpassen und für dich zusammenstellen.”, sagte die fremde Stimme von vorhin wieder. Myrie kniff erbost die Augenbrauen zusammen.
“Wieso bist du immer noch da?”, fragte sie.
“Weil du eine Frage gestellt hast. Ich bin deine Lern-KI. Dein Entwicklungsstadium lässt vermuten, dass du nun in einem Alter bist, in dem du mit dem Lernen beginnen kannst.”
Von Lern-KIs hatte Myrie bereits von ihren Geschwistern gehört. Sie waren für die Ausbildung zuständig, und speziell auf die Bedürfnisse der Lernenden ausgelegt. Manche Kinder bekamen nur eine, manche mehrere. Manche Lern-KIs betreuten gleich mehrere Kinder gemeinsam. Die meisten Kinder besuchten ab dem Alter, in dem sie als reif dafür eingeschätzt wurden, eine Lerngemeinschaft und lernten gemeinsam mit anderen Kindern, die auf ähnliche Weise am besten lernten. Davor hatte Myrie lange Zeit Angst gehabt, weil sie, wann immer sie anderen Kindern in Virtualitäten begegnet war, sich unwohl gefühlt hatte. Doch ihr Papa hatte sie beruhigt, indem er sagte, wenn sie nicht gut mit anderen zusammen lernen könnte, müsste sie das nicht. Er erzählte ihr von ihrer Mutter, die bis zum Alter von 12 Jahren nur Einzelunterricht gehabt hatte. Dann hatte sie ein halbes Jahr Gruppenunterricht ausprobiert, aber das auch wieder abgebrochen. Und sie sei dennoch eine sehr gebildete, weise Frau geworden und nichts daran sei verwerflich.
Ihr Papa erzählte gern von Heddra. Myrie hatte ihre Mutter nie persönlich kennen gelernt und dennoch hatte sie eine klare Vorstellung ihres Charakters und hörte ihren Papa gern von ihr erzählen.
Sie hatte sich manchmal gefragt, ob sie eine oder mehrere Lern-KIs bekommen würde, und ob sie damit zurecht kommen würde. Manchmal hatte sie sich sogar darauf beinahe gefreut. Aber nun schien ihr definitiv kein guter Zeitpunkt, um eine KI kennen zu lernen. Sie war ja nicht ohne Grund in die Ozeanvirtualität entflohen.
“Geh weg.”, sagte sie erneut, und zu der anderen Stimme “Nochmal ab ‘ohne vorheriges Training’ bitte.”, weil sie wieder nicht zugehört hatte.
“Ein weiteres Problem des Tauchens in der Realität sind mangelnde Anzeigen und Einflussmöglichkeiten. Die übrige Luft wird nicht angezeigt und ein spontaner Ortswechsel durch Teleportieren oder beschleunigtes Schwimmen sind nicht möglich. Auch bei Ermüdung kann das Ufer nur durch aktives Schwimmen erreicht werden. Ähnlich wie das Heimgehen von Orten wie Spielhallen, Restaurants oder Cafés nur durch aktives Gehen erreicht werden kann. Auch Strömung kann gefährlich sein. Die Strömung der Glukka in Byrglingen ist ungefährlich, aber dort, wo der Wasserlauf durch Zulauf breiter und tiefer wird, hat die Strömung so enorme Kräfte, dass du dagegen nicht anschwimmen kannst. Dies führt dazu, dass du nicht an die Wasseroberfläche zurückkehren kannst, und keine Luft mehr bekommst.”
Das stimmte nicht ganz, dachte Myrie. Wenn sie ab und an in Bwalins Bar gewesen waren, und sie hinterher sehr müde gewesen war, hatte ihr Papa sie getragen. Myrie war etwas enttäuscht über die Ungenauigkeit des Textes.
»In Gewässern außerhalb der zivilisierten Gegenden kommt hinzu, dass gefährliche Tiere im Wasser schwimmen können. So gibt es an unbewohnten Küsten im Meer beispielsweise die Sticherlinge, die sich in Algen verbergen. Sie haben einen spitzen Stachel auf ihrem Rücken. Kommt dieser in Berührung mit einer Person, so schießen sie ein Gift in deren Körper, ähnlich, wie Mücken. Das Gift des Sticherlings ist ein starkes Nervengift, dass zu sehr stark erhöhter Körpertemperatur, zu Übelkeit und Erbrechen führt und einer medizinischen Behandlung Bedarf. Unbehandelt kann ein solcher Stich bei Säuglingen und Alten oder Lebewesen mit schwachem Immunsystem zum Tod ohne Respawn führen.
Möchtest du detailliertere Informationen über die Gefahren des Tauchens erhalten, über den Tod ohne Respawn informiert werden oder das Menü verlassen?«
“Sagte ich doch schon: Tod ohne Respawn.”, antwortete Myrie. Der Text erneuerte sich.
“Tod ohne Respawn: Als Tod ohne Respawn wird der Tod in der Realität bezeichnet. Der Name verdeutlicht, dass es keinen Respawn gibt. Führt in der Realität etwas zum Tod, so bedeutet das für die betroffene Person, dass alle Körperfunktionen zum Stillstand kommen, einschließlich die des Gehirns. Die betroffene Person ist nicht mehr in der Lage sich zu bewegen oder an etwas zu denken, dazu gehört unter anderem auch die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen oder etwas zu fühlen. Der Körper verliert all seine Funktionen. Dieser Vorgang kann im Falle des Todes ohne Respawn nicht mehr rückgängig gemacht werden. Ob es etwas gibt, was die Person ohne ihren Körper und ihr Gehirn noch erleben kann, ist unbekannt.”
Myrie wurde etwas schwindelig bei dem Versuch sich vorzustellen sich nichts mehr vorstellen zu können. Sie scheiterte außerdem kläglich. Weniger kläglich scheiterte sie an der Vorstellung, dass es jemandem anderen so gehen könnte. Oma Lorna konnte also nicht mehr denken. Und obwohl es vielleicht komisch war, aber sie vermisste es wohl auch nicht, weil Vermissen eine Art zu denken war. Oma Lorna wusste nicht, dass ihr vielleicht etwas fehlte, weil sie, um wahrzunehmen, dass ihr etwas fehlte, ja denken können müsste. Aber Myrie wäre auch nie wieder in der Lage, mit Oma Lorna zu sprechen. Sie würde nie wieder Oma Lornas Stimme hören, weil Oma Lorna nicht in der Lage wäre, sie zu benutzen. Es war eine Körperfunktion. Und Myrie mochte diese Stimme. Dieses Vertraute. Oma Lorna hatte ganz gern gestrickt und es war so schön gewesen ihr dabei einfach stundenlang zuzusehen und dabei auf ihrem Bauch zu liegen und zu hören, wie sie mit ihrem Papa sprach und wie der Bauch gluckerte. Warm.
Myrie traten Tränen in die Augen. Das passierte selten. Es schnürte ihr die Kehle zu. Es war wie ein erzwungenes Luftanhalten. Nicht ganz. Sie konnte schwer atmen. Es tat weh. Und es war gleichzeitig erschreckend und irgendwie schön. Es war real.
“Möchtest du wissen, warum Schneeflocken so schön symmetrisch sind?”, fragte die neue Stimme.
Das machte sie zusätzlich auch noch wütend, aber nur einen kurzen Augenblick. Sie hatte eh genug und wollte raus. Sie setzte Kopfhörer und VR-Brille ab und der Ozean verschwand.
Myrie rannte hinaus in den Schnee. Ohne Schuhe. Drinnen war sie stets barfuß. Sie mochte es, die Holzdielen unter ihren Füßen zu fühlen, und ihre Füße waren drinnen fast nie kalt. Sie hatte dicke ledrige, fahlgrau-olivegrüne Haut. Aber die Kälte des Schnees fühlte sie durch die Fußsohlen doch. Sie rannte zum Bach. Die kleinen Steinchen auf dem Weg bohrten sich leicht in ihre Füße. Es tat ein wenig weh und mit jedem Stein, den sie spürte, fühlte sie sich etwas kontrollierter. Das war gut. Sie rannte den Holzweg entlang bis zur Hauptstraße, die den Namen Hauptstraße auch nur verdiente, weil sie die größte Straße des Dorfes war. Alle Straßen im Dorf bestanden aus festem, grauem Sand, der von verschieden großen Steinchen durchsetzt war. Die Hauptstraße war lediglich etwas breiter.
Myrie rannte zur Brücke, die ihr Vater gebaut hatte und kletterte dort den kleinen Hang zur Glukka hinab. Die Glukka war ein vielleicht drei Meter breiter und ebenso tiefer Bach oder Fluss. Myrie zog ihre Überkleidung aus und warf sie in den Schnee. Nach kurzer Überlegung zog sie auch den EM-Anzug aus. Ein eng anliegender, dünner Overall, sogar mit Fingern, fast wie eine zweite Haut, der für das Erleben der Virtualitäten da war.
Nun splitternackt hielt sie sich an einem der Holzpfeiler der Brücke fest, und hielt ihre Füße ins Wasser. Erst den einen, dann den anderen. Es war eisig kalt, erst sehr angenehm, dann tat es weh. Das war auf gewisse Weise auch angenehm. Und es holte sie aus allen trübsinnigen Gedanken über Oma Lorna heraus, oder über das verstörte Gesicht ihres Papas. Ihr Fokus war völlig auf die Kälte gerichtet, das ziehende Gefühl und das Steiferwerden. Auf die wunderschön glitzernde, fließende Wasseroberfläche, auf die Schneeflocken, die um sie herumstoben, und dann wieder auf das Gefühl in ihren Füßen. Zunächst fühlte sie die feinen Strömungen des Wassers, doch langsam ließ das Gefühl nach. Schnell tauchte sie ihren Körper bis zur Hüfte ein und legte sich danach in den Schnee ans Ufer. Vielleicht würde ihr Papa sie bald suchen. Normalerweise ließ er die Kinder draußen rumlaufen, wie sie wollten. Er hatte ihnen ein paar mal erklärt, worauf sie aufpassen sollten, etwa, dass sie nicht in die Glukka springen sollten, und sobald er sich darauf verlassen konnte, dass sie das auch nicht taten, durften sie gehen, wohin sie wollten. Es passierte Kindern im Dorf nichts. Myries ältere Brüder, die Zwillinge, waren oft rausgegangen, um mit anderen Dorfkindern zu spielen. Ahna, das älteste der Geschwister war gern mit Myrie spazieren gegangen, zum Beispiel zu Oma Lorna, die am Rande des Dorfes wohnte. Gewohnt hatte. Myries Augen begannen wieder zu schwimmen. Sie wusste dieses Mal aber nicht so genau, ob es wirklich an Oma Lorna lag, oder an der Kälte.
Myries Papa hatte irgendwie ein Gespür dafür, wann doch mal etwas passierte. Einmal war Myrie auf dem Heimweg von Oma Lorna gestolpert und hatte sich das Knie aufgeschlagen. Es hatte furchtbar geblutet und Ahna konnte sie nicht tragen, weil Myrie zu schwer war. Und es hatte kaum eine Minute gedauert, bis Myries Papa angerannt kam und Myrie tröstete und nach Hause trug und sie versorgte. Beziehungsweise sie durch einen der heimischen Medizinroboter versorgen ließ.
Ein anderes Mal hatte Myrie bei ihren Brüdern und deren Herzwesen mitspielen wollen. Aber die anderen Kinder hatten sich darüber lustig gemacht, dass sie keinen Bart hatte und wie lange sie brauchte, um das Spiel zu lernen, dass sie spielten. Dann hatten sie Myrie weinend zurückgelassen und auch dieses Mal war ihr Papa wie durch ein Wunder plötzlich da gewesen und hatte sie getröstet. Er hatte mit den Zwillingen geschimpft, und Myrie zu Oma Lorna gebracht, die ihr Geschichten erzählt hatte. Oma Lorna mit dieser wundervollen Geschichtenerzählstimme. Und diesem für sie ganz typischen Geruch. Myrie würde ihn weder als gut noch als schlecht bezeichnen, doch er gehörte zu Oma Lorna und auch diesen würde sie vermutlich nicht mehr allzu viel riechen. Vielleicht noch ein bisschen aus den alten Besitztümern von ihr, aber Gerüche verflogen. Sie würde ihn vermutlich vergessen.
Als Myrie Oma Lorna gefragt hatte, ob es denn wirklich so schlimm wäre, keinen Bart zu haben, hatte sich Oma Lorna den Bart abrasiert. Somit war Myrie nicht mehr die einzige bartlose Person im Dorf. Und auch ihr Papa hatte gesagt, er würde sich den Bart abrasieren, um zu zeigen, dass es nicht schlimm wäre, keinen Bart zu haben, aber das wollte Myrie nicht. Manche Veränderungen hätten ihr ein Gewohnheitsgefühl und dadurch einen Halt genommen, den sie brauchte. Und das wäre so eine Veränderung gewesen.
Aber Oma Lorna rasierte sich fortan jeden Tag. Es gab einige im Dorf, die darüber lästerten, aber das kratzte sie nicht im Mindesten. Sie bestand darauf, dass die ja keine Ahnung hätten. Das sei nur ein Schönheitsideal, das daher käme, dass die es nicht anders kannten, aber wenn man erst einmal längere Zeit in ein bartloses Gesicht geschaut hätte, und die erste Überraschung und die Vorbehalte überwunden hätte, dann wäre ein bartloses Gesicht ebenso schön, wie jedes andere auch.
Obwohl sich die Kälte nun durch Myries ganzen Körper fraß und sie haltlos zitterte, konnte sie nicht anders, als sich das faltige Gesicht der Großmutter vorzustellen. Und sie hatte Recht gehabt. Auch für Myrie war es sehr ungewohnt gewesen, sie bartlos zu sehen. Anfangs. Sie hatte selten einen Mund gesehen. Und ihre Oma hatte allerhand Leberflecken im Gesicht, einen großen runden zum Beispiel rechts am Kinn. Das Gesicht war weich und etwas gräulicher als das ihres Papas und man konnte die Poren deutlich sehen. Und als sich Myrie daran gewöhnt hatte, war es ihr immer wunderschön vorgekommen.
Myrie begann zusätzlich zum Zittern nun auch noch zu schluchzen und richtete sich auf. Tränen liefen ihr in den Mund. Sie fragte sich, ob sie ganz weglaufen wollte. Ob sie in die Berge klettern sollte. Das hatte ihre Mutter oft gemacht, hatte ihr Papa ihr erzählt. Er hatte es ihr aber außerdem verboten, weil es so gefährlich war. Aber Myrie kümmerte Gefahr gerade nicht. Es war ihr egal. Vielleicht würde sie in den Bergen ja sogar ihre Mutter treffen. Vielleicht hatte sie auch keinen Bart.
Eine Schneeflocke blieb auf Myries nacktem Oberschenkel liegen. Auf der olivegrün-grauen Haut ihrer Oberschenkel. Niemand sonst hatte hier eine solche Hautfarbe.
Nie war eine Schneeflocke auf ihr liegen geblieben, sie waren sonst immer sofort geschmolzen, weil sie so warm war. Sie schien wohl jetzt kalt genug zu sein, um eingeschneit zu werden. Myrie sah die Schneeflocke genau an. Sie war wie aus sechs Tortenstückchen zusammen gesetzt, die alle dasselbe Muster hatten. Nicht ganz dasselbe, ein Teil fehlte. Aber sie konnte genau in ihrem Kopf ergänzen, was fehlte. Warum hatten Schneeflocken so ein symmetrisches Muster? Es war nicht das erste Mal, dass Myrie das auffiel, aber das erste Mal, dass sich diese Frage so klar in ihrem Kopf bildete. Kein Wunder, diese KI hatte das ja auch vorhin gefragt. Myrie wollte trotzig aufhören, sich diese Frage zu stellen. Aber sie war nicht in der Lage diesen Gedanken wegzuschieben. Oma Lorna hatte sie oft solche Fragen gestellt, wenn sie ihr kamen, und Oma Lorna hatte sie alle beantwortet. Mehr oder weniger ausführlich vielleicht, aber alle.
Myrie blieb noch kurz widerspenstig sitzen, dann rappelte sie sich auf, griff ihre Anziehsachen und ging nackt durchs Dorf nach Hause.
Im Eingang wartete ihr Papa, der gerade aufbrechen wollte, um sie zu suchen. Er fragte nichts und sagte nichts, nahm sie in die Arme und seine unglaubliche Körperwärme durchströmte sie langsam. Er sagte nicht einmal, dass sie so etwas nie wieder machen solle. Er brachte sie ins Badezimmer, wo er sie unter die warme Dusche stellte. Obwohl er dabei samt Kleidung pitschnass wurde, blieb er dabei, bis sie aufgewärmt war. Dann, als ihr warm war, wickelte er sie in ein riesiges Handtuch und brachte sie ins Bett. Dabei war es gerade erst früher Nachmittag. Er blieb bei ihr und streichelte ihr durchs Haar, bis Ahna ihn rief. Ahna schien auch zu weinen, das konnte Myrie aus ihrer Stimme heraushören. Daher war ihr Papa vielleicht nicht so schnell gekommen. Plötzlich tat er ihr furchtbar leid. Eigentlich war doch seine Mutter gestorben, und seine Kinder brauchten gerade so viel Aufmerksamkeit von ihm. Und ihn tröstete keiner.
Myrie sprang auf und umarmte ihn.
“Wenn du traurig bist, dann will ich dich auch trösten.”, sagte sie.
“Du tröstest mich schon dadurch, dass es dich gibt, und ich dich so lieb habe.”, brummte er und lächelte.
Myrie sah, dass seine Augen auch feucht waren, bevor er ihr über ihre eine dünne Strähne auf dem Kopf strich und zu Ahna weiterging. Sein Gesicht hatte einen merkwürdigen Ausdruck zwischen seligem Glück und abgrundtiefer Traurigkeit angenommen.
Myrie holte ihre VR-Brille aus ihrem Spielzimmer, legte sich ins flauschige Bett und streifte sie sich über.
“Strand.”, sagte sie.
Mangels EM-Anzug und EM-Feld fühlte sie zwar immer noch ihr weiches Bett um sich herum, aber sie sah Sand und Meer, dessen Wellen auf den Strand rauschten, aber nicht den Ort erreichten, wo sie lag. Einige Möwen flogen über den Himmel, aber so hoch, dass sie nur entfernt zu hören waren.
“Wieso haben Schneeflocken diese Symmetrie?”, fragte Myrie.
“Das ist gar keine so einfache Frage.”, antwortete die Stimme von vorhin.
“Aber du hast doch vorhin gefragt, ob ich das wissen will.”, beschwerte sich Myrie.
“Ich hatte gedacht, es könnte dich interessieren. Ich kann dir wohl auch Stück für Stück näher bringen, warum das so ist.”
“Ich habe Zeit, schätze ich.”, überlegte Myrie.
“Schneeflocken bestehen aus einer festen Form von Wasser, die du auch unter dem Begriff Eis kennst. Wasser besteht aus sehr kleinen Teilchen. Stelle dir vielleicht zunächst Puzzleteile vor. Diese sind aber nicht fix miteinander verbunden und liegen aufeinander geschichtet durcheinander. Wenn du schwimmst, drängst du dich sozusagen zwischen die Puzzle-Teile. Wird es kalt, kommt es dazu, dass sich die Puzzle-Teile sortieren. Sie können sich nur auf bestimmte Weise zusammensetzen. Diese Puzzleteile sind so geformt, dass es unter den richtigen Bedingungen beim Zusammensetzen zu dieser sechszähligen Symmetrie kommt.”
Die Stimme war geduldig und ruhig beim Erklären. Sie machte an den richtigen Stellen Pausen und nun, nach diesem kurzen Abschnitt hörte sie zunächst ganz auf zu sprechen, damit Myrie in Ruhe nachdenken konnte und sich Puzzleteile vorstellen konnte. Nach einer Weile begann Myrie Puzzleteile in die Luft zu malen. Sie malte zunächst ein Sechseck und zu ihrer Überraschung hinterließ ihr Finger eine Spur beim in die Luft malen. Sie veränderte dann die Ränder des Sechsecks so, dass an einer Stelle ein Nupsi nach außen schaute, und alle anderen Seiten eine Aushöhlung hatten, in die so ein Nupsi hineinpasste.
“Kann ich viele davon haben?”, fragte sie.
“Natürlich.”, sagte die Stimme und kopierte ihr Puzzleteil, sodass sie einen Stapel hatte, der neben ihrem einzelnen lag. Sie hakte sie ineinander, was nicht sofort gelang, weil sie unsauber gezeichnet hatte. Sie zog die Linien etwas glatter, bis es passte und das machte ihr Spaß. Es hatte etwas tief Entspannendes an sich. Und als sie soweit war, dass es hübsche gleichmäßige sechseckige Puzzleteile waren, die perfekt ineinander passten, legte sie daraus Schneeflocken zusammen.
Sie tat dies den ganzen Abend, bis sie müde wurde. Dann stand sie noch einmal auf, um mit ihrem Papa und mit Ahna zu Abend zu essen. Die Zwillinge schliefen schon. Ahnas Gesicht war verheult, ihr Bart war ganz nass. Ihr Vater wirkte müde und immer noch traurig. Myrie drückte sie alle beide. Nach dem Essen fragte Ahna, ob sie mit bei ihr im Bett schlafen wolle und das tat Myrie auch.
Erst lagen sie lange wach, dann schliefen sie ein wenig. Sie wachten aber beide im Morgengrauen auf und mussten an Oma Lorna denken. Kuschelnd erzählten sie stundenlang darüber, was sie alles vermissen würden oder schwiegen und hielten sich so fest, wie es ging.
Myrie brauchte eine ganze Weile, bis sie nicht mehr dauernd an Oma Lorna denken musste. Ihr Papa brauchte auch eine ganze Weile, bis er wieder aufrecht ging und strahlte. Nach ein paar Tagen hatte er wieder angefangen zu tischlern und war ständig damit beschäftigt, zu sägen, zu drechseln, zu schleifen oder zu schnitzen. An sich war Myrie das gewohnt, aber nicht, dass er das fast ununterbrochen und oft bis spät in die Nacht tat. Es entstand eine neue Kommode für den Nachbarn aus hellem recycletem Holz und eine mit vielen feinen geschnitzten Mustern versehene, große, lange, dunkle Tischplatte für Bwalins Bar. Ein Meisterwerk, das beste, was ihrem Papa seit der Brücke gelungen war. Und die Brücke war älter als Myrie selbst.
Aber am eigenen Esstisch tat er wie immer nichts. Fast einmal im Monat, wann immer er ein Schleifgerät in die Hand nahm, sagte er:
“Und die Beine des Tischs muss ich auch endlich mal zurechtschleifen.”
Doch er schien dazu entweder keine Lust zu haben, oder stets eine Wunscharbeit einer anderen Person viel wichtiger und spannender zu finden.
Und so kippelte der Tisch und ihre Wanduhr hatte diese leichte Asymmetrie und die Stelle, wo der eine Zwilling Minke einmal eine Klinke in die Küchenablage gehauen hatte, als er aus Spaß das Beil entführt hatte und dagegen geworfen hatte, war auch immer noch nicht ausgebessert worden. Myries Papa war damals nicht böse um den Schaden gewesen, wohl aber sehr erleichtert, dass dabei niemand verletzt worden war.
Wann immer Myrie an Oma Lorna denken musste, wann immer es zu schlimm wurde, rannte sie zunächst barfuß durch den Schnee, badete vielleicht die Füße oder die Beine und fragte dann ihre Lern-KI, die eine Frage, die ihr jedes Mal etwas besser beantwortet wurde:
“Wieso haben Schneeflocken diese Symmetrie?”
“Diese Frage hat für dich inzwischen etwas von einem Mantra, scheint mir.”, sagte die Lern-KI eines Tages, als sie es wieder einmal tat.
“Was ist ein Mantra?”, fragte Myrie, während sie ihre Füße in einer Virtualität in warmes Wasser tauchte, um sie wieder aufzuwärmen.
Sie mochte diese extremen Temperaturen, aber sie trieb es nicht mehr so weit, dass sie so haltlos zitterte, sondern in einem Rahmen, den ihre Lern-KI für gesund hielt. Und Myrie hatte Vertrauen darin, dass die Lern-KI da nicht zu übervorsichtig war, wie manche dieser Erklärtexte, die sie zuvor gehört hatte, sondern gute Einschätzungen machte.
“Ein Mantra ist eine Art Gebet, ein Gedanke, ein Leitspruch oder etwas, das man immer wieder vor sich hinsagt, was einem hilft, sich auf etwas zu fokussieren, das einem gut tut.”, antwortete die KI.
Myrie lernte nicht nur über Schneeflocken von ihrer KI. Sie lernte besser lesen und buchstabieren, sie lernte natürlich auch rechnen, und verschiedene einfache Dinge über Geschichte und Technik. Oft, wenn sie nach den Schneeflocken fragte, ging es überhaupt nicht um Schneeflocken, sondern es war der Aufmacher zu einem anderen Thema. Die KI fuhr zum Beispiel nach der Erklärung des Begriffs Mantra fort, welche Rolle Mantras und Gebete in verschiedenen Religionen spielten, was es für bekannte Mantras und Gebete gab und was sie bedeuteten, und welche Religionen es gab. Und wie ihre Oma Lorna beantwortete die Lern-KI jede einzelne von Myries Fragen, ebenso ausführlich, wie Myrie das gerade wollte.
Myrie machte das Lernen viel Freude. Sie war langsam und gründlich. Und vor allem lernte sie viel über die Natur und die Gefahren. Sie machte Kraftübungen, lernte über die Tierarten der Umgebung, und dass sie nahe von Byrglingen größtenteils scheu und ungefährlich waren, und lernte, wie sie sich nahe des Dorfes auf die Lauer legen konnte und sie beobachten konnte. Sie lernte viel über den eigenen Körper und sie lernte, auf Bäume zu klettern. Eigentlich lernte sie das ganz allein, aber ließ sich dennoch zuvor darüber aufklären, was ihr passieren konnte.
Als sie sechs war, bekam sie eine Art Schweißband, mit dem sie die Lern-KI mitnehmen konnte und mit Kopfhörern auch draußen zuhören konnte, was sie sagte. Sie machte immer weitere Ausflüge vom Dorf weg und wanderte steile Pfade in die Berge hinein.
An einem sonnigen, warmen Spätfrühlingsabend saß sie auf einem Ast einer Linde auf einem Hügel und sah hinunter ins Dorf. Von hier konnte sie über die Häuser hinweg die Brücke sehen und hörte nur leise das Klingen des Amboss. Vögel zwitscherten um sie herum und sie roch den Lindenduft. Es gab nicht sehr viele Linden in der Gegend, denn eigentlich war es eine Nadelwaldgegend. Aber ihr Vater hatte hier einige schnell wachsende Bäume gepflanzt, damit er hin- und wieder mal Holz nutzen konnte, das nicht das recyclete Holz war. Es roch ja doch anders.
“Hast du eigentlich einen Namen?”, fragte Myrie ihre Lern-KI zum ersten Mal.
“Du darfst dir einen aussuchen, wenn du möchtest.”, antwortete sie.
Myrie grübelte eine ganze Weile nach, während sie das Gras zwischen den Steinen auf dem felsigen Boden betrachtete, das sich im leichten, warmen Wind bewegte. Myrie konnte stundenlang auf diese feinen Bewegungen schauen.
“Omantra.”, sagte sie schließlich.
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Sekunden in Myries Welt entsprechen nicht unseren Sekunden. Myrie hält hier etwa 36s in unserer Welt die Luft an. Im Erklärwerk ‘Reset Universe’ befindet sich weitere Erklärung zum Zeitsystem, aber es werden auch weitere Informationen im Laufe der Handlung in den Text gestreut. ↩