Wellt

\Beitext{Ranuk}

Es war Herbst geworden und die Stürme rüttelten an der Hecke und am Baum. Herbst hieß auch, dass es nachts wieder Nacht wurde und tags noch Tag war. Sofern ein mit Wolkendecken überzogener Himmel, deren Schatten über den Boden wehten, herkömmlich auch als Tag bezeichnet würde. Ranuk mochte es jedenfalls.

Sie saßen abends noch draußen, wenn es dunkel wurde, und sahen sich das Himmelsspektakel über dem Garten an. Der Garten war schön. Unter dem Baum war der Stammplatz des Tisches, aber um in den Himmel zu sehen, hatte Emre ihn heute samt Gestühl mitten auf den Wiesenbereich gestellt, der regelmäßig gemäht wurde. Der Bereich war etwa zwei- bis dreimal so groß wie Ranuks Schneise damals, also nicht allzu viel Arbeit. Auf der einen Seite gab es ein kleines Steinbeet mit Rinkeln und Ranuen. Auf der anderen begrenzte ein kleines, verwunschenes Mäuerchen ein Beet, dass auf der einen Seite mit insektenfreundliche Blumen gepflanzt war, vielen Sorten, und auf der anderen mit Kräutern. Außerdem hatten sie tatsächlich in einem Teil des Gartens das Gras einfach stehen gelassen, dass nun ungestört gen Himmeln wuchern durfte. So etwas hatte Ranuk immer schön gefunden und Ranuks Eltern immer grässlich.

Die Ziege hatte sich vor ein paar Stunden schon vom Acker gemacht. Nun lagen sie zu zweit in den Liegestühlen und schauten in das sich ständig verändernde Geleucht im Himmel. Im Moment waren nur ein paar Puffwölkchen da, die vom Mond angeleuchtet wurden. Und etwas Aura. Beides zusammen tanzte über den Himmel wie dezent bunte Quallen.

Alles kam und ging in Wellen. Die Wolken, die Jahreszeiten, die Tage. Und nicht zuletzt die Wellen am Meer, die ja auch Wellen waren. Wellen gehörten zu Leben so sehr, dass Emre das Wort Welt am liebsten mit zwei l geschrieben hätte, hatte Emre erzählt. Wobei es das Wort ‘wellt’ ja auch wirklich gab. Dritte Person Singular, Präsens von ‘wellen’.

“Es ist wirklich eine schöne Wellt geworden, die wir hier geweltet haben”, sagte Emre weich und genießend, die Arme hinter dem Kopf im Liegestuhl verschränkend. Keine nackten Arme immerhin. Emre trug seit einer Woche etwa langärmlige Ringelhemden.

“Es ist immer was zu tun, aber ich habe allmählich trotzdem ein Fertig-Gefühl”, sagte Ranuk.

Die Farben wellten für ein paar Momente leuchtender am Himmel. Die Sterne dazwischen fühlten sich so fern an, und gleicheizig waren sie noch viel weiter weg, als sie sich anfühlten. Das war ein schönes Gefühl von Raum. Ranuk fühlte sich gern klein, im Vergleich zu dieser Welt. Wellt. Diesem riesigen Universum.

“Ist es ein Erschöpft-Gefühl, so ein, du bist völlig fertig? Oder ein zufriedenes Etwas geschafft haben Gefühl?”, erkundigte sich Emre.

“Vor allem letzteres, aber auch ein bisschen das erste. Wie ist es bei dir?” Ranuk spürte eine untergründige Angst, die rie zu verdrängen versuchte, als rie das fragte. Und schämte sich gleichzeitig.

“Dasselbe. Ich fühle mich viel weniger erschöpft, als als ich kam”, sagte Emre. Und fügte hinzu: “Ich mag grammatikalisch richtige Sätze mit zwei älsen.”

Diese angenehm entspannte Stimme, dachte Ranuk. “Heißt das, dass du bald gehen wirst?” Das war die Angst.

Emre drehte den Kopf kurz zu Ranuk, aber blickte dann wieder in den Himmel. “Ich würde schon gern noch ein oder zwei Wochen bleiben. Versuchen, Energie zu tanken, während die Welt da draußen vor sich hin distopiert.” Traurigkeit oder Frust schlich sich in Emres Stimme. “Aber ich werde nicht anders können, als die gewonnene Kraft dann zum Kämpfen zu verbraten. Da tobt ein Krieg, ich muss da rein.”

Es tobte ein Krieg. Über Grenlannd vor allem im Moment. Grenlannd war ein kleiner Kontinent, der mit seinem ganzen Wald und Grün eine wesentliche Komponente im Klimagleichgewicht spielte. Konzerne und sowas hatten herausgefunden, dass es dort Ressourcen gab, – natürlich. Die sie gewissenlos abbauen wollten, dazu den Kontinent abholzen und anschließend für Anbau und Tierzucht verwenden wollten.

Klimaaktivist*innen hatten versucht, den Wald zu besetzen. Unerfolgreich bisher, weil die dort heimische Tierwelt sich dagegen sträubte, den Lebensraum zu teilen. Ranuk fand das sehr verständlich. Während es zugleich Hoffnung für Grenlannd reduzierte.

Weniger pazifistische, politische Gruppen versuchten, die Wirtschaftselite mit etwas mehr Erfolg mit Waffen aufzuhalten. Und eine etwas esoterisch wirkende Vereinigung hatte sich gegründet, die Mondzeugen, die Wege suchten, mit den vor Ort lebenden Tiervölkern doch zu verhandeln, dass sie dort zum Schutze des Kontinents vorsichtig siedeln dürften. Sie versuchten, die Tiere als sie selbst anzusehen und nicht so zu tun, als wären sie ihnen allzu ähnlich. Ihre Methoden wirkten nicht sehr wissenschaftlich, aber sie hatten erste Erfolge, sodass sie schon an zwei Stellen auf dem Kontinent Camps aufgeschlagen hatten, und auch noch fast alle lebten.

Emre spielte seit längerem mit dem Gedanken, sich anzuschließen, aber so ganz überzeugt war Emre von der Gruppe nicht. Emres Einstellung zu den Mondzeugen war allerdings erheblich freundlicher als das Bild, das viele Medien zu vermitteln versuchten. Wie sie in den vor allem staatlichen Medien dargestellt wurden, trug eher dazu bei, dass sich über nebensächliche Eigenschaften der Gruppe aufgeregt wurde, die nicht so in ein normiertes Gesellschaftsbild passten, und vielleicht sogar manchmal ethisch fraglich waren. Es sorgte für eine Verurteilung der Mondzeugen durch den größten Teil der Bevölkerung, die in keinem Verhältnis zu irgendwas stand, was gerade eigentlich hätte wichtig sein sollen.

Emre war nicht sicher, ob eine so vertretbare Idee wäre, sich den Mondzeugen anzuschließen, dass es sich für Emre gut anfühlte, aber wollte zumindest Aufklärungsarbeit gegen die Diskursverschiebung leisten. Und sich an Demonstrationen und anderem zivilen Ungehorsam beteiligen.

Sie sprachen nicht allzu viel darüber. Emre hatte nicht ohne Grund eine Pause von alledem gebraucht.

“Wenn du wieder ausbrennst, darfst du hier immer gern auftanken, wenn das taugt”, versprach Ranuk.

Dieses Mal blickte Emre länger zu ihs hinüber, mit einem Lächeln im Gesicht. “Ich überlegte ohnehin schon, ob ich dich frage, ob ich den Sommer über immer ein paar Monate hier sein kann. Ich kann bei zu heißen Temperaturen nicht denken. Was bringt mir der Wille zu Aktivismus, wenn ich nicht denken kann und wenn ich keine Ruhepausen bekomme und deshalb zu kaputt gehe.”

Ranuk nickte und ließ sich allzu freiwillig von dem Lächeln anstecken. “Herzlich gern. Hast du dadurch irgendwelche Probleme mit Wohnsitz oder sowas?”

Emre seufzte. “Ich versuche möglichst, Dinge unter der Hand zu machen. Die Gesetzgebung ist beschissen und nicht für mich geeignet”, sagte Emre. “Ich bin salvenisch, übrigens. Also habe Wurzeln in einem Volk, das eigentlich mal ein reisendes Volk war. Und traditionell Wohnraum in verschiedenen Regionen hatte, der halt Saison-weise bewohnt wurde. Das ist lange her, dass wir das so haben leben können. Das wurde auf dem ganzen Kontinent Maerdha über die letzten Jahrhunderte immer mehr unterdrückt. Meine Urgroßelter-Generation ist daher nach Arelis ausgewandert, wo es damals noch lockerer war, aber in Arelis wurde nachgezogen. Und weil es zwischendurch nach Änderungen der Gesetze zu unseren Gunsten in Maerdha aussah, sind meine Eltern, die noch gefühlt vage Erinnerungen von ihren Großeltern hatten, wie es mal war, vor meiner Geburt wieder hierher zurück-ausgewandert. Wir hatten aber eben gezwungenermaßen einen festen Wohnsitz. Meine Eltern haben versucht, mir in Urlauben etwas über meine Wurzeln zu zeigen, aber es ist alles so zerrissen, dass ich eigentlich kein Gefühl dafür habe. Ich bin in einer sesshaften Kultur groß geworden und komme aus einer reisenden, und weiß überhaupt nicht, was für mich richtig wäre.”^[Hier wird sehr rasch sehr dicht viel zu Emres Hintergrund erzählt. Für mich ist das logisch: Emre hat einen BurnOut und sperrt alles eine ganze Weile einfach komplett aus. Aber es entwickelt sich für Emre ja nicht langsam, sondern in dem Moment, in dem es wieder ein bisschen geht, rasselt das halt rein. An Personen, die irgendwie hiermit relaten, sei es wegen BurnOut oder sei es, weil anderes hier sie repräsentiert: Wie findet ihr das? Sollte ich das eher streichen? Schadet das so, wie ich das hier mache?]

Ranuk hörte geduldig zu, bis Emre ausgeredet hatte. Rie fand es interessant, aber ihs war gleichzeitig bewusst, dass darin ein Schmerz steckte, den rie nicht nachempfinden können würde. Rie wusste nicht, wie rie darauf angemessen eingehen könnte und sagte deshalb erst einmal ein paar Takte nichts. Und dann: “Ich mag dich. Und ich wünschte, du könntest es besser oder leichter haben.” Rie holte einmal tief Luft und vertiefte den Blick in die Weite des Himmels. “Ich bin wohl ziemlich sesshaft. Ich möchte hier am liebsten nie wieder weg und der Gedanke daran, das zu sollen, fällt mir schwer. Ich würde vielleicht auch gern an Aktivismus beteiligt sein, aber ich kann es vor allem vom Computer aus, und das ist nur so mäßig effektiv.”

“Ich glaube, das ist effektiver, als du denkst”, sagte Emre leise. “Von dem, was du erzählst, und wie ich dich erlebe, bist du gut darin, Leuten Halt zu geben. Und es ist so wichtig, irgendwo einen Halt zu haben, gesagt zu bekommen, dass eins nicht falsch ist. Das gibt mir überhaupt die Kraft, kämpfen zu können.”

“Ach Emre”, seufzte Ranuk. “Du bist so gutmütig und motivierend und genügsam. Klar ist das ein bisschen geben, aber wenn die Mehrheit ist wie ich, wird das nicht reichen.”

“Das Problem ist vor allem, dass eine Minderheit nicht so ist wie du, und sich dafür einsetzt, Strukturen zu behalten, die allen weh tun”, gnarfzte Emre. “Können wir das Thema wechseln?”


Emre hatte ein ganz gutes Verhältnis zum Geist entwickelt. Oder der Entität. Natürlich hatte Emre sich die selbe Frage gestellt wie Ranuk anfangs: Woher kommt das Blut? Oder der Geist selbst?

Ranuk war vor allem erleichtert, dass Emre auch Nachrichten bekam. Eine gewisse Angst hatte Ranuk schon gehabt, dass der Geist sich vor Emre verstecken würde, sodass Emre Ranuk nicht glauben würde. Aber es entstanden Nachrichten auf den Spiegeln, während sie beide draußen waren, die Emre zuerst entdeckte. Emre zweifelte nicht. Oder behauptete das zumindest.

Nach den ersten Nachrichten an Emre hatte Emre kurzerhand geantwortet, und zwar nicht direkt etwas sagend, wie Ranuk das getan hatte, sondern Emre hatte mit roter Tusche Nachrichten unter die des Geistes geschmiert. Mit Ranuks Einverständnis natürlich.

Emre hatte zwar nicht aus dem Geist herausbekommen, wo das Blut herkam, aber demm immerhin dazu bringen können, die rote Tusche selbst zu benutzen. Um den kleinen, roten Tuschfarbenbehälter entstand in ihrer Abwesenheit oft viel niedliches Gekleckere.

Heute Abend wollten sie einen Film gucken, und als der Geist davon mitbekommen hatte, hatte dey gegen Mittag eine Empfehlung dagelassen. Aber entgegen Ranuks Haltung, dem Geist oft nachzugeben, lehnte Emre ab, weil sie eigentlich beide nur mäßig Lust auf den Streifen hatten. Ranuk hätte ihn gewählt, weil ihnen die Entscheidung schwer fiel, welcher es dann werden würde. Aber Emre hatte einfach die vier Titel, auf die sie am ehesten Lust hatten, unter dem Vorschlag des Geistes auf den Spiegel geschrieben, und deren Vorschlag durchgestrichen.

Als sie nun das Haus betraten, weil es inzwischen viel zu kalt geworden war, hatte der Geist freundlicherweise nur einen stehengelassen. Eiswelt. Passend zu Ranuks Schlotterzustand, der aber einer warmen Decke und einem Heißgetränk nachgeben würde.

Sie setzten sich also zusammen auf das Sofa. Ranuk hielt mutig einen Arm nach oben, und zu ihser Überraschung verstand Emre sofort und kuschelte sich hinein.

Der Film ging um eine Prinzessin mit magischen Eis-Kräften, die mit ihrem Schiff und einem schwangeren, männlichen Pinguin über das Eismeer schlidderte, um die Welt vor einer Hitzewelle zu retten.

Ranuk mochte ihn, weil er so schön darstellte, dass eine Bedrohung auch sehr real da war, wenn sie völlig unsichtbar war und erst viel später wirksam würde. Und weil auch während so einer Aktion Alltag und andere Probleme vor sich hinpassierten.

Ranuk schlief auf dem Sofa ein, die Arme um Emre geschlungen. Es war alles sehr seltsam. Gerade war es gut, aber eigentlich war auch nichts gut. Seltsam eben.