Umzug
\Beitext{Emre}
Das Wort ‘Umzug’ hatte auch zwei U. Zuumuutung hatte zwei U mehr als üblich. Zwei U, die eine Person für Emre mit nur einem Wort sympathatisch gemacht hatten. Das Wort Umzug dagegen war trotz der zwei U eher zwiespältig. Das Ergebnis eines Umzugs war meistens irgendwann gut, aber der Umzug selbst barg so eine enorme Last, dass das Ergebnis nicht mit dieser zusammen in eine einzelne Vorstellung passte. Vor allem nicht in einem ausgebrannten Hirn, wie Emre eines hatte.
Emre fühlte im Moment, wie jeder Tag sich ein bisschen leichter anfühlte als der vorherige. Jeder Tag, an dem Emre nicht mehr arbeiten musste, weil Emre sich nun mit dem BGE nicht um einen weiteren Job in dem Unternehmen gekümmert hatte, nachdem der befristete Vertrag ausgelaufen war. Emres Arbeit war solide gewesen, aber nie so herausragend, dass Emre eine feste Anstellung hätte bekommen können. Es waren über nun mehr acht Jahre eine befristete Stelle nach der nächsten gewesen, wenn es hochkam mal für ein Jahr, aber sonst auch oft nur für zwei bis drei Monate. Stellen, für die Gelder beantragt werden mussten, was Emre neben der Arbeitszeit auch hatte bewerkstelligen müssen. Stellen mit ständig leicht unterschiedlichem Einkommen, weil sie zwischen Drittelzeit und Halbzeit schwankten, was Steuererklärungsgedöns schwieriger machte. Emre arbeitete allerdings immer voll darauf, das war auch bei dem verlangten Pensum nicht anders möglich und üblich. Und all das war immer noch einfacher gewesen, als offiziell krank zu sein, was Emre eigentlich schon seit mindestens drei Jahren war.
Emre hatte nun seit einem Monat keine Arbeit mehr und über die Hälfte des Monats verschlafen, – also nicht am Stück, sondern jeweils die halbe Nacht und den halben Tag –, weil einfach nichts mehr ging. Es fühlte sich wie ein riesiger Overload an, ein riesiges Zuviel, das nun mental abgearbeitet werden musste. Allmählich ließ das Gefühl nach, irgendwas zu müssen, um überleben zu dürfen, wenn Emre gegen Mittag aufwachte. Und bei dem Gedanken kamen Emre Tränen der Erleichterung. Tränen. Interessante Sache, so eine gefühlige Körperreaktion. Dass sich das wieder einschaltete. Das hatte Emre seit Monaten nicht gehabt, oder waren es Jahre? Emre hatte nicht einmal Kraft für Wut gehabt.
Emre wusste, dass es viele wütende Leute gab, vor allem Marginalisierte, die das BGE an sich zwar toll fanden, die Umsetzung aber kritisch sahen. Personen, denen Emre vertraute, dass sie sich damit irgendwie auseinandergesetzt hatten. Wenn diese sagten, dass das als kapitalistischer Trick gedacht war, um zu zeigen, dass das eh nicht klappen würde mit dem BGE, dann war da vermutlich was dran. Emre hätte sich früher in das Thema gestürzt, Leute informiert, versucht, sinnvollen Aktivisimus zu machen und wäre wütend gewesen. Aber dazu fehlte Emre jede Energie. Es war egal, was ein sinnvolles Verhalten gewesen wäre, mit dem BGE umzugehen. Wenn das System wegen des BGEs kollabieren würde, weil Leute, die krank waren, durch das BGE nun nicht mehr weiter arbeiteten, dann war dieses Kollabieren vielleicht auch irgendwie notwendig oder früher oder später eine Unausweichlichkeit. Aber wahrscheinlich war das zu einfach gedacht.
Emre jedenfalls las absichtlich nichts zum Thema, unterhielt sich nicht mit Leuten darüber, versuchte den Gedankenapparat, der in alter Manier automatisch versuchte, sich damit auseinanderzusetzen, welche Auswirkungen Emres Verhalten hätte, abzuschalten, und sich darauf zu fokussieren, gesund zu werden oder zumindest gesünder. Arbeit im Freien auf dem Land, wo es nicht so warm war. Möglichst ohne Zeitdruck – und das war der komplizierte Punkt. Dadurch konnte Emre nicht einfach Feldarbeit oder sowas machen, weil es da feste Zeitpläne gab und Leute üblicherweise auch eher voll arbeiteten. Oder nun mit BGE nicht mehr? Wer weiß.
Auf Emres Anzeige hatten sich jedenfalls nur wenige Leute gemeldet, und Ranuk war mit Abstand am interessantesten und sympathischsten und hatte die besten Standortfaktoren. Norden war wichtiger als die Sache mit der Toilette.
In den vergangenen Tagen hatten sie sich gemeinsam Konzepte für den Garten ausgedacht. Ranuk hatte Fotos geschickt und Emre hatte Überlegungen angestellt, wie er verändert werden könnte, recherchiert und Vorschläge gemacht. Ranuk hatte sich dann Dinge erklären lassen und ausgesucht. Ranuk hatte praktischerweise weniger Entscheidungsschwierigkeiten als Emre. Emre hätte sich mehr Zeit zum Abwägen genommen. Ranuk war mehr so: Hauptsache anders, nicht zu kompliziert, halbwegs pflegeleicht und irgendwie hübsch. Trotzdem machten sie sich auch ein paar Gedanken über Insektenfreundlichkeit.
Die Recherche hatte Emre nicht allein gemacht, sondern mit Ranuks Einverständnis die Bilder an Emres Herzwesen Enne mit viel Ahnung von Pflanzen geschickt, weil Emre selbst eigentlich gar keinen so furchtbar grünen Daumen hatte. Enne hatte dann erklärt, welche Ansätze wie einfach umzusetzen und hinterher wie pflegeleicht wären. Emre hatte dann herausgefunden, welches Werk- und Gartenzeug notwendig wäre und sich bei Ranuk erkundigt, was da war. Es war eine Menge da. Aber eine Sense gab es nicht.
Und so kam es, dass Emre an einem heißen Sommertag in einen schwarzen Mantel gehüllt, einen schweren Wanderrucksack (in den besagter Mantel einfach nicht mehr gepasst hatte) auf dem Rücken und einer Sense in der Hand übermüdet im überfüllten öffentlichen Personenverkehr stand und von früh bis spät gen Norden fuhr. Es fühlte sich seltsam an. Nicht unbedingt gut. Emre befürchtete Verletzungsgefahr. Aber es fühlte sich auch albern und surreal an, sodass sich ein ungewolltes Grinsen in Emres Gesicht verklemmte, das vermutlich nicht nur einen gruseligen Aspekt zur Ästhetik hinzufügte, sondern auch auf Dauer Schmerzen in den Gesichtsmuskeln verursachte.
Wenn Emre für den folgenden Tag keinen Plan hatte, schlief Emre durchaus gut und lang, und schaffte es oft am dann anbrechenden Tag für Stunden nicht aus dem Bett, weil es nicht passieren musste und doch auch gemütlich im Bett war und Emre dauererschöpft. Wenn am nächsten Tag noch vor Sonnenaufgang der Zug abfahren würde, dann schaffte Emre es pünktlich dorthin, aber konnte die Nacht kaum sinnvoll oder entspannt schlafen, hatte Panik und in Halbschlafträumen lief nichts so, wie es sollte. Daher kam die Übermüdung.
Emre fuhr mit dem Zug von Fork nach Geesthaven zur Fähre nach Fjärsholm und bekam jene gerade so, weil die zwei Stunden Verspätung, die Emre vorsichtshalber einberechnet hatte, nur ausgeschöpft und nicht überschritten wurden. Auf der Fähre fühlte sich eine Sense irgendwie weniger gefährlich und stilvoller an. Der Wind zerrte am Mantel, der bei der Überfahrt sinnvoller an- als ausgezogen war. Eigentlich war beides falsch. Unter dem Mantel trug Emre bloß ein ärmelloses Oberteil, das mit dem Wind auf dem Wasser vielleicht angenehm kühl gewesen wäre, aber Sonnenbrand wohl garantiert hätte. Der Mantel schützte also vor Sonnenbrand und fühlte sich nicht ganz so schlimm an wie in den Zügen. Emre hätte wahrscheinlich etwas Dünnes, Langärmliges auspacken sollen, aber war zu erschöpft, das Gepäck zu durchwühlen. Allein das Öffnen des Rucksacks wäre zu viel gewesen. Eincremen wäre noch anstrengender gewesen. BurnOut eben.
Ab Fjärsholm fuhren nach Høppla vor allem kleine Zuckelzüge, aber immerhin waren sie sehr pünktlich. Skandern hatte vor der Kontinentisierung Maerdhas ein durchaus zuverlässiges öffentliches Verkehrssystem gehabt, das auch nicht sehr unter der Vereinheitlichung gelitten hatte. Vielleicht, weil die Bevölkerungsdichte hier so viel geringer war und eben noch die selben Leute arbeiteten wie zuvor.
Als Emre in Høppla ausstieg, war der schwarze Mantel zwar immer noch zu warm, aber fühlte sich nicht mehr so an, als würde er Emre gefährden. Emre hatte zwischendurch Angst gehabt, eher in einem Krankenhaus anzukommen als in Høppla. Der einzige Grund, warum Emre hier noch einigermaßen gerade stand, war der Einfluss von einer Ipro-Tablette gegen Kopfschmerzen und für Entspannung gewesen. Emre tat alles weh, besonders die Schultern, auf denen der Rucksack trotz Beckengurt zog, und konnte sich eignetlich nicht vorstellen, vorm Schlafen noch eine Hütte ausräumen zu müssen. Aber was musste, das musste wohl.
Als sich der Bahnhof allmählich leerte, wurde klarer, wer Gaby sein musste. Gaby trug ein blaues Scientists-For-Future-T-Shirt mit abgetrennten und sauber umgenähten Ärmeln über einer langärmligen Bluse und eine ausgewaschene Jeans mit ein paar Flicken. Das T-Shirt löste in Emre einen gewissen Frust aus, den Emre schnell verdrängte. Emre hatte auch mal zu den Scientists For Future gehört, und das war leider mitursächlich für den BurnOut gewesen. Stattdessen konzentrierte Emre sich auf die Flicken: Es waren Segelboote, Leuchttürme und ein Deicheinhorn darunter.
“Moin!”, grüßte Gaby, ohne die Hand anzubieten.
Emre versuchte ein Lächeln und grüßte vorsichtig mit einem “Hi” zurück. “Ich bin Emre.”
“Schicker Mantel.” Gaby hielt sich nicht lang damit auf, Smalltalk zu versuchen, sondern führte Emre zu einem kleinen Auto, in das Emres Gepäck trotzdem brauchbar Platz hatte.
Emre fühlte sich nervös dabei, die Sense darin zu verstauen, und dass Gaby irgendwelche Sprüche in Richtung Gevatter Tod machte, half dabei auch nicht.
“Oder müsste ich bei dir Gemutter Tod sagen?”, fragte Gaby. “Hm?”
Emre ging nicht darauf ein und versuchte vergeblich, das Thema zu wechseln. Vielleicht war es aber auch Gaby nicht so sehr zu verübeln, dass Gaby Emres Einwürfe wie ‘Oh!’, ‘So vielleicht?’, ‘Uff’ und ‘Aua’ nicht als Wink mit dem Zaunpfahl auffasste, über etwas anderes zu philosophieren.
Als sie bald darauf fuhren, war es dann endlich abgehakt. Gaby hatte einen sicheren, angenehmen Fahrstil, fand Emre.
“Und Ranuk wird dich nicht ins Haus lassen, habe ich das richtig verstanden?”, fragte Gaby.
“So ungefähr”, antworte Emre. Es gab da ja diese Ausnahme mit den verbundenen Augen. Aber das war eine Sache zwischen Ranuk und Emre.
“Wie fühlst du dich damit?”, fragte Gaby. “Ist ‘du’ okay?”
Gaby hatte hellbraune Haut und, wie im hohen Norden häufiger, relativ schmale Augen, oder welche, die es gewohnt waren, sich gegen Sonnenlicht zusammenzukneifen und dadurch nicht unentspannt aussahen.
“Duzen ist in Ordnung.”, antwortete Emre. “Und ich bekomme ein eigenes, kleines Haus, wieso sollte ich mich beschweren?”
“Du kannst jedenfalls gern mal bei mir übernachten, wenn es dir zu viel wird. Ich weiß ja nicht, wie lange du bleibst”, versicherte Gaby.
Emre genoss diesen kurzen Augenblick von Ruhe, als sie am Zielort ausstiegen. Den Mantel inzwischen über den Arm gehängt fühlte Emre die angenehme Kühle des hereinbrechenden Abends und eine Portion böigen Wind auf der Haut, die Einsatz des Gleichgewichtsinns erforderte. Es roch nach feuchten Pflanzen und irgendwie naturnäher als alles, was Emre in den letzten Wochen erlebt hatte. Das war angenehm und fühlte sich sehr erleichternd an.
Gaby klingelte, klingelte nach einer kurzen Wartezeit noch einmal und zückte schließlich, als immer noch niemand reagierte, das Handy, um anzurufen. Es ging immerhin rasch jemand ran und das Telefonat dauerte nicht lang.
Ranuk kam wenige Augenblicke später eine Art Weg entlang, der um das Haus herumführte. Ranuk hatte weißes Haar, das vielleicht mal blond gewesen war, in einen zweckmäßigen Zopf zusammengefasst. Ranuks Gang war eher gebückt, als hätte Ranuk Schmerzen. Und das schwere Atmen sprach auch ein wenig dafür.
“Ich habe es nicht über mich gebracht und angefangen, Zeug aus der Hütte zu werfen, damit du schneller schlafen kannst, und dabei die Zeit vergessen”, erklärte Ranuk.
“Das ist lieb.” Emre fiel nichts Besseres zu sagen ein und bereute das ein bisschen. Es fühlte sich furchtbar erleichternd an. Emre hätte gern das ganze Gefühl vermittelt, und das passte nicht in diesen kleinen Satz. “Wirklich lieb!”
“Ich lasse euch zwei mal allein. Du bist sicher müde”, beschloss Gaby. “Wenn ihr mich braucht, ruft mich an und ich komme.”
Emre fand Gaby durchaus nett und versuchte, sich freundlich zu verabschieden. Dann folgte Emre Ranuk in den Garten. Er roch gut. An manchen Stellen roch er etwas faulig, aber das empfand Emre nicht als negativen Geruch.
Ansonsten war alles wie erwartet, nur dass neben der Hütte nun Fahrräder im Gras lagen, darunter ein Tandem, sowie ein Rasenmäher, Gartenmöbel, anderes Gestänge und Gedöns.
“Ich bin noch nicht fertig geworden”, sagte Ranuk.
“Dazu bin ich ja auch hier”, beschwichtgte Emre.
“Und ich habe so eine dicke, blaue Luftmatratze gefunden”, fuhr Ranuk fort, ohne auf Emre einzugehen. “Die ist vielleicht angenehmer als dieses dünne Reiseding, von dem du erzählt hast. Ich weiß nur nicht, ob sie Löcher hat.”
Ranuk zeigte Lichtschalter und Zeltplane und erklärte, dass Emre einfach den Rest rausschmeißen dürfe und sich wann anders dann um das so zusätzlich entstandene Gartenchaos kümmern könnte. Emre möge sich erstmal um sich kümmern. Außerdem würde es laut recht zuverlässigem Wetterbericht in der Nacht nicht regnen, sodass das provisorische Dachflicken auch bis morgen Zeit hätte.
Ranuk blieb nicht lange. Nachdem alle ersten Fragen beantwortet waren und Ranuk Emre einmal zum Klo geführt hatte, zog sich Ranuk zurück.
Emre räumte noch so viel Kram aus der Hütte, bis die große Matratze passte. Das war der anstrengendste Teil, weil es eine klapperige Arbeit war, bei der sich viel verhakte, und trotz schlechter Konzentration Dinge mehr klappen als klappern mussten. Dann legte sich Emre auf den kalten, staubigen Holzboden der Hütte und bließ langsam die Luftmatratze auf. Mit dem Mund. Tiefe Atemzüge. Die Luft der Hütte einatmend, den Boden bei der Bewegung erfühlend, und langsam in die Matratze ausatmend, die ein wenig nach Plastik roch und schmeckte. Sich darauf freuend, sich selbst gleich daraufzulegen, und wenn es nur für ein paar Minuten war, falls sie undicht wäre.
Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl, nach der ganzen Fahrt, nach dem ganzen Herumgeleiste, weit weg im Norden, wo Emres Körper nicht schmolz, auf einer Matratze zu liegen und fische Luft zu atmen. Emre wäre fast einfach eingeschlafen. Für den Moment glücklich und zufrieden. Aber Emres Magen beschwerte sich, zu wenig gegessen zu haben.
Ranuk hatte eine Kochplatte zur Verfügung gestellt, eine recht neue sogar, und ein paar Töpfe und etwas Geschirr. Emre hatte für die ersten Tage ein paar Lebensmittel eingepackt. Heute war Emres Lieblings-Ankomm-Essen dran. Eine lange nicht mehr ausgeführte Tradition: es war nicht das erste Mal, dass Emre eine lange Anreise zu so etwas wie Urlaub machte, aber das letzte Mal war vor vielen Jahren gewesen.
Emre setzte einen Topf mit Wasser auf, in den bald die langen, breiten Nudeln kommen würden, und in einem zweiten bereitete Emre rot-weiße Soße mit angedünsteten Topraten vor. Dabei stand die Tür der Hütte offen, damit sich die Feuchtigkeit und der Geruch verziehen konnten, und kalte, grüne Abendluft strömte aus dem Garten herein.
Wie sehr hatte Emre diese Ruhe und Selbstbestimmung vermisst.