Begeistert
\Beitext{Emre}
Emre fühlte sich so entspannt wie lange nicht mehr. Alles tat weh. Angenehm weh. Von der Arbeit der letzten Tage. Der Geruch von Gras drang durch das offene Fenster in die Hütte. Emre lag entspannt, mit den meisten Teilen des Körpers direkt auf dem Boden, weil die Matratze um diese Uhrzeit allmählich leer war. Emre pustete sie jeden Abend wieder auf. Und hatte bislang nicht Bescheid gegeben, dass es kein Flickzeug gab. Ranuk hatte ja ohnehin ein schlechtes Gewissen wegen der angeblich mangelnden Besuchsfreundschaft. Aber Emre mangelte es an nichts.
Als Emre bewusst darauf lauschend Ranuks erste Rödeleien des Tages vernahm, stand Emre auf. Gemütlich. Ranuk war eigentlich nicht laut. Aber irgendwie hatte sich, ungefähr seit Emre hier war, eine Tradition entwickelt, dass sie draußen gemeinsam frühstückten, wann immer das Wetter es auch nur einigermaßen zuließ. Das reduzierte das Gewissen bei Ranuk, und Emre war die Tradition durchaus recht. Sie garantierte, dass Emre tatsächlich irgendwann aufstand.
Sie frühstückten querbeet, was da war. Manchmal Rundlinge, manchmal Müsli, gelegentlich Reis, häufig Reste von gestern, und heute: Käsekuchen.
“Aber wie erzähle ich sowas bloß?”, murmelte Ranuk, als sie, Besteck und Geschirr sinnvoll auf dem und um den Tisch verteilt hatten, die Ziege dabei berücksichtigend, den Kuchen in der Mitte.
Emre war nicht sicher, ob es zu sich selbst gemurmelt oder an Emre gerichtet war. Aber fragte vorsichtshalber mal trotzdem: “Was denn?”
“Dass in meinem Haus ein Geist lebt.” Es war die selbe abwesende Sprechart, bei der Emre sich unsicher war, ob Ranuk bewusst war, es ausgesprochen zu haben, oder nicht.
“Ungefähr so: In meinem Haus lebt ein Geist”, schlug Emre vor.
Ranuk blickte Emre plötzlich etwas wacher an. “Woher weißt du?”
Emre antwortete nicht und blickte zurück.
“Oh”, machte Ranuk.
“Dir war wirklich nicht bewusst, dass du das gerade laut sagst”, stellte Emre fest.
Ranuk lächelte, aber es wirkte auch ein bisschen entgeistert. Oder so. “Es war mir schon bewusst, aber irgendwie, ich weiß auch nicht, hatte ich den Eindruck, ich rede mit einem anderen du? Ich kann das gerade nicht besser beschreiben.”
“Ich glaube, ich verstehe”, sagte Emre. “Es klingt ein bisschen nach Derealisierung oder so etwas. Das hatte ich viel, als ich sehr gestresst war.”
“Bist du es nicht mehr?”, fragte Ranuk.
Emre stand vom Tisch auf, ging zum Zaun und pflückte sich eine Pusteblume. Ate betrachtete das Vorgehen neugierig vom Tisch. Ranuk hingegen beschäftigte sich damit, den Käsekuchen anzuschneiden. Sie hatten zusammengelegt, um ihn sich zu kaufen, und Gaby hatte ihn mit dem Wocheneinkauf mitgebracht. Emre hatte überlegt, so etwas allmählich mit dem Rad zu erledigen, aber bis Høppla war es schon eine Ecke. Hier in der Gegend verkauften vor allem kleine Landwirtschaftsbetriebe in Verkaufshütten angebaute Lebensmittel, die hilfreich wären, wäre Emre in die Küche gelassen worden oder hätte Ranuk Energie gehabt, zu kochen.
Emre setzte sich wieder an den Tisch und betrachtete die flauschige Blume. Und pustete nach einer Weile sehr behutsam die Fliegeteile weg, sah ihnen nach, wie sie durch den Wind davon getragen wurden. “Seit ich hier bin, geht es mir viel besser”, erklärte Emre. “Ich kann atmen. Ich kann wieder denken. In Fork war es zu heiß zum Denken. Ich habe so drei Stunden am Tag denken können. Das ist so erleichternd, das wieder meistens zu können!”
“So, wie du hier rumläufst, wäre mir zu kalt zum Denken”, kommentierte Ranuk.
“Ich werde mich schon irgendwann wärmer anziehen”, mutmaßte Emre. “Im Moment habe ich den Eindruck, Überhitzung von mindestens zwei Jahren ausdampfen zu müssen. Wie nach einem Sauna-Besuch in Kleidung, nur halt nicht so kurz.”
“Verstehe.”
Sie schwiegen einige Momente. Ranuk war nicht gut mit Worten, hatte Emre den Eindruck. Aber irgendwie vermittelte Ranuk Emre doch ein Gefühl, wertvoll zu sein. Und einfach sein zu dürfen. Es gab so viel Stress, den Emre sonst mit Leuten hatte; mit Ranuk nicht.
“Wenn du schon überlegst, ob ich derealisiere, glaubst du dann eh nicht an den Geist?”, fragte Ranuk und kam so zum Thema zurück.
“Warum sollte ich nicht?”, fragte Emre. “Ich meine, erst einmal spielt es keine Rolle, ob der Geist existiert oder nicht, um mit dir ernsthaft über das Thema zu reden. Aber dann ist die Option, dass er existiert auch die lohnenswertere, interessantere, anzunehmen.”
Ranuk grinste. “Klingt schon so, als würdest du nicht wirklich dran glauben, sondern nur für Unterhaltungen mit mir als Grundlage annehmen, dass er existiert, weil es das Gespräch ergiebiger machen könnte.” Ranuk löste ein Pusteblumendings aus dem Kuchen, das sich dort verfangen hatte, und bließ es in die Luft. “Damit kann ich trotzdem gut leben.”
“Ich entscheide mich nicht so schnell, ob ich an etwas glaube oder nicht.”, hielt Emre fest.
“Oh, das gefällt mir!”, sagte Ranuk.
In Emre bildeten sich Fragen über Fragen. Deshalb stellte Emre zunächst überhaupt keine. Laut nicht. Innerlich fragte sich Emre: War das der Grund, warum Emre nur mit geschlossenen Augen ins Haus durfte? Warum erzählte Ranuk davon? Weil Emre mit dem Geist in Kontakt treten sollte? War Ranuk wichtig, dass Emre zügig daran glaubte? Wollte Ranuk beweisen, dass es den Geist gab? Sollte Emre eher die Gesprächsrichtung Beweise einschlagen, oder die Gesprächsrichtung, was es für ein Geist war und was er tat? Emre überlegte, dass letzteres schöner war, akzeptierender.
“Was denkst du darüber? Oder deswegen von mir?”, unerbrach Ranuk Emres Gedanken.
“Ich denke deswegen jetzt nicht anders von dir”, antwortete Emre wahrheitsgemäß. “Ich kann mir vorstellen, dass es einiges an Mut kostet, von einem Geist im Haus zu erzählen. Und mache mir Gedanken darüber, was du jetzt brauchst. Und wie ich dir klar machen kann, dass ich mich nicht über dich lustig machen oder mich über dich erheben werde oder sowas.”
Emre blickte auf, als von Ranuks Seite ein kurzes Aufschluchzen im Atem zu hören war. Da waren außerdem Tränen in den Augen, um die herum sich in der dadurch schönen Haut viele kleine Fältchen gesammelt hatten. Nicht nur Lachfalten, sondern auch einfach welche, die in alter Haut entstanden.
Ranuk wischte die Tränen weg. “Danke. Ich weiß auch nicht, Akzeptanz ist halt auch immer noch was Besonderes.”
“Ich weiß”, sagte Emre traurig. Und dann: “Wie ist dein Verhältnis zum Geist? Bist du zufrieden mit der Anwesenheit, oder ist dey eher unnett zu dir?”
“Oh, du verwendest ein Neopronomen”, stellte Ranuk fest.
Emre ging nicht darauf ein. Es war ein Thema. Ein großes, über das Emre im Leben gefühlt schon viel zu viel geredet hatte. Vielleicht wäre es mit Ranuk leichter. Aber Emre war müde. Und war eigentlich ganz froh, dass sie den Themenkomplex noch nicht angefasst hatten. Dass er mal nicht wichtig war. Wobei Emre positiv aufgefallen war, dass Ranuk Emre nicht einfach irgendwie genderte oder geschlechtspezifische Kommentare machte. Sehr positiv. Vielleicht war es das erste Mal in Emres Leben, dass so lange Zeit am Stück Geschlecht wirklich gar keine Rolle gespielt hatte. Und das war ganz schön.
Es fühlte sich an, als wäre der ganze Geschlechterkram auch Teilschuld am BurnOut gewesen. Das sich Wehren gegen die permanenten Zuweisungen von außen, was auf der einen Seite so notwendig erschien und auf der anderen so sinnlos, weil es ein Kampf gegen zu große Windmühlen war. Bei dem Emre immer das Gefühl hatte, für andere eine zu große Last zu sein. Dadurch dass Emre allein durch Emres Existenz das Navigationsmodul für soziale Interaktion ungefähr aller Leute über den Haufen warf, weil jenes Emre nicht vorsah.
“Ich versuche das auch mal”, beschloss Ranuk. “Ich bin eigentlich recht angetan von deren Anwesentheit. Dey schreibt Nachrichten auf Spiegel, meistens motivierende, die mich ein bisschen in den Hintern treten. Die letzte war ‘Zeig dich’.”
“Du bist also eher begeistert als entgeistert über den Geist”, stellte Emre fest.
Ranuk grinste. “Genau.”
Emre lächelte mit. Und war sich inzwischen recht sicher, deswegen die Augen für aufs Klo gehen verbunden haben zu sollen. “Ich benutze für Entitäten, die ich nicht kenne, das Pronomen dey, und für Gegenstände, die mehrere Pronomen haben, wie, – ah, mir fällt natürlich genau dann, wenn ich es brauche, keines ein –, das Pronomen as. Und für Wörter, die wir aus anderen Sprachen übernommen haben, möglichst das Pronomen aus jener Sprache. Also zum Beispiel für Team it. Ich möchte damit Neopronomen auf eine Stufe mit anderen Pronomen stellen, indem ich sie auch für Gegenstände benutzte”, erklärte Emre doch.
“Das finde ich cool!”, begeisterte sich Ranuk. “Ich weiß, was du meinst, mit Wörtern mit mehreren Pronomen. Mir begegnen dauernd welche, wo ich sehr irritiert bin über die Pronomenwahl anderer für das Wort, aber meinst du, dass mir gerade eins einfiele? Nope.”
Die Ziege suchte sich diesen Moment aus, um laut zu meckern, mehrfach, einmal zu rülpsen (obwohl sie gar keinen Käsekuchen gegessen hatte), und schließlich über den Zaun davon zu hoppsen.
“Okay”, stimmte Ranuk ihr zu.
“Was hat sie gesagt?”, fragte Emre.
“Määh”, sagte Ranuk. “Also, bisschen anders artikuliert. Aber ich fand es sehr überzeugend irgendwie.”
Emre grinste noch einmal. Und kam dann zum spannenden Thema zurück: “Warum erzählst du mir vom Geist?”
“Also, neben der Aufforderung des Geistes selbst von wegen Zeigen, hat mich Gaby ermahnt, dass ich dich mit offenen Augen ins Bad lassen soll”, sagte Ranuk, und bestätigte damit einige von Emres Gedanken. “Außerdem, und da werde ich schon wieder zuumüütender: Ich hatte die Hoffnung, dass du mir vielleicht auch bei meinem Chaos im Haus helfen magst. Mir ist das sehr peinlich.”
Emre nickte einfach. Und verkniff sich ein Lächeln, um Ranuk möglichst das Gefühl zu geben, dass Emre Ranuk sehr ernst nahm. Aber innerlich freute sich Emre unerhört darüber, dass es sich nach einem gewissen Vertrauen anfühlte. “Sehr gern.”
Ranuk blickte Emre eine Weile an und schließlich zurück auf den Tisch. “Ich habe gar keinen Tee gemacht. Möchtest du Tee?”
“Auch gern!”, sagte Emre, und fügte enthusiastisch hinzu: “Vampir!”
Ranuk blickte verwirrt zurück, was Emre Ranuk nicht verdenken konnte. “Der Geist ist kein Vampir, würde ich behaupten. Woher weißt du von dem Blut?”
“Nein”, widersprache Emre. “Es kann der oder das Vampir heißen. Weshalb ich für Vampir das Pronomen ‘as’ nehme. Wobei ein Vampir sogar auch eine Entität ist, weshalb ich zwischen ‘as’ und ‘dey’ wechsele.^[Anmerkung des Schreibfischs: Ich dachte tatsächlich sehr lange, dass Vampir mit ‘der’ oder ‘das’ richtig ist. Vielleicht hat sich mein jüngeres Selbst geweigert, zu akzeptieren, dass Vampir wieder ein Begriff im Maskulinum ist, um menschenähnliche Wesen zu beschreiben. Jedenfalls ist das nun ein In-Universe-Ding: In meinen Geschichten geht der oder das Vampir.]”
Anschließend vertauschten sie sozusagen ihre Emotionen, was Emre belustigte: Ranuk wurde von Emres Enthusiasmus angesteckt und freute sich über das gefundene Wort. Und Emres Enthusiasmus wich Verwirrung mit besagter Priese Belustigung. “Welches Blut?”