Bildbeschreibung:
Eine Tasse mit Tee darin. Die Tasse hat ein altmodisches Design mit Blümchen und eigentlich ist sie prädestiniert dazu, auf einer Untertasse mit gleichem Muster zu stehen, aber das tut sie nicht.
Content Notes:
Stalking, Tötungsabsichten, Einbruch, Fesselung.
Ein Scheiterhaufen
Sonja, Léonide, Marcin, Luna, Angela
Die selbe mondscheinhelle Nacht. Wind, der dünne Wolken über den Himmel fegt, bevor das erste Morgengrauen sie rosa anfärben wird. Lauden Léonide von Horstenfels’ Villa ist nicht so zugewuchert wie Lunas Haus im Wald. Sie liegt auch nicht in einem unheimlichen, kühlen Geisterwald, sondern zwischen den anderen Häusern im Dorf. Aber derzeit ist es fast genau so ruhig.
Sonja, in Fuchsform, nähert sich dem Gebäude über den Garten. Das Haus schläft. Nur eine Lampe erhellt ein Zimmer im oberen Stockwerk. Marcins Zimmer, denkt Sonja. Paolo hat ihr beschrieben, wo Marcin jetzt wohnt. Marcin kann wohl nicht schlafen, weil er so besorgt um Paolo ist, mutmaßt Sonja.
Sonja hüpft am Efeu entlang einen verzweigten Baum neben dem Wohnzimmer hinauf auf das Dach. Es verursacht kein Geräusch. Beziehungsweise ein so leises, dass höchstens Luna es hören würde. Sonja weiß nicht, wie Lunas Sinne funktionieren. Vielleicht ist es auch mehr ein Fühlen. Sie weiß nur, dass es im Wald um vieles besser funktioniert als im Dorf.
Sonja fühlt sich leicht ängstlich, aber sie weiß, dass sie eigentlich nicht von Leuten entdeckt werden kann, von denen sie nicht entdeckt werden will. Luna ist nicht in der Nähe, sondern im Wald mit ihrer Beute beschäftigt. Der Klang der Mondklinge sirrt noch in Sonjas Körper nach. So angenehm. So gern würde sie wieder, wieder in Lunas Armen liegen, wenn sie ihn hört, und dabei ihr zum Opfer fallen. Aber derzeit glaubt sie, dass Luna ihr den Ton nie wieder vorspielen wird. Ihr nicht. Sadistisches Aas, das sie ist.
Sonja balanciert über eine Fensterbank direkt am einzig noch leeren Zimmer vorbei, das irgendwann vielleicht von Kendras Mutter bezogen wird. Dann kommt der schwierige Teil: Der Sprung zum Fenster mit dem Licht, in dem Marcin ist. Sonja peilt, atmet, springt, und… verheddert sich. Das ist ihr noch nie passiert. Sie strauchelt, versucht sich zu halten. Irgendwas stimmt hier nicht, etwas ist anders als sonst. Es ist glatt wie Eis. Eine Schlinge, von der sie nicht versteht, wo sie herkommt, schließt sich um ihren Fuß, als sie in die Tiefe stürzt und von selbiger aufgefangen wird. Sie baumelt am Seil, kommt nicht rauf, kommt nicht runter, strampelt. Sie überlegt, sich in die menschlichere Form zu wandeln, aber hat Angst, dass die Schlinge ihr dann völlig den Fuß abschnürt, weil sie ihren dünnen Fuchsfuß eng umschließt.
Gerade als sie sich doch dazu entscheiden möchte, geht das Licht im Fenster hinter ihr an. Lauden Léonide von Horstenfels tritt in einem Nachtgewand vor die Scheibe und beobachtet Sonja beim Schaukeln.
As öffnet das Fenster. “Wenn du willst, dass ich dich losmache, halt still!”, befielt as.
Sonja braucht noch einen Moment, bis sie sich davon abhalten kann, panisch Halt zu suchen. Als sie endlich versteht, nimmt Léonide sie in saine Arme, als wäre as geübt in so etwas, löst die Schlinge, und wirft den Schneefuchs auf sain Bett. Ehe Sonja verschwinden kann, schließt Léonide das Fenster.
Sonja wandelt sich nun endgültig in ihre menschlichere Form. Sie fühlt sich so verletzlich in einem fremden Haus auf einem Bett in einem Zimmer dieses Laudens, nicht im Zimmer von Marcin. Sie kennt das Lauden doch gar nicht. “Es war eine Falle”, flüstert sie das erste, was ihr in den Sinn kommt. Sie ist noch nicht ganz aus dem Schneefuchsdenken zurück.
“Ich weiß”, sagt Léonide bloß. “Ich habe sie selbst installiert.”
Sonja starrt as an. “Was? Warum?”
Léonide nimmt erschöpft auf sainem Schlafzimmersessel Platz. “Eine Vorsichtsmaßnahme”, sagt as. “Du hast Paolo dazu manipuliert, eventuell in den Wald zu gehen. Ich habe mich einfach gefragt, was du als nächstes probieren wirst. Und da war naheliegend, dass du dich an Marcin wagst. Er ist nicht so leicht zu manipulieren, aber du hast bei ihm vermutlich die besten Chancen, ihn in den Wald zu locken, indem du ihm sagst, Paolo wäre da.”
“Für so bösartig hältst du mich?”, fragt Sonja.
“Ja, ich denke schon”, antwortet Lauden Léonide von Horstenfels auch noch.
Sonja blickt as mit zusammengekniffenen Augen an. Sie kennt as nicht, aber bei dieser Reaktion erschließt sich ihr sofort, warum Luna as mag. Sonja seufzt. Wenn sie sich wünscht, dass Luna sich mit ihr irgendwann verstehen soll, dann muss sie sich wohl mit Lunas Herzenspersonen verstehen. Und das geht wahrscheinlich nur über diese merkwürdige Form von Direktheit oder Ehrlichkeit, die sich Sonja noch nicht ganz erschließt. “Ja, bin ich wohl.”
“Huch?”, macht Léonide verwundert. “Traust du dich nicht, mir gegenüber alle Kaliber von Taktik zu ziehen, um zu kriegen, was du willst?”
“Ich will Luna”, entgegnet Sonja. Gefühlsachterbahn. Ein erbärmliches Häufchen Elend ist sie doch.
“Luna gehört sich selbst”, sagt Léonide. “Sie wird niemals jemandem gehören.”
“Aber sie mag dich”, sagt Sonja. “Sie hat irgendeine Art Freundschaft oder Bindung mit dir. So etwas reicht mir schon. Denke ich.”
“Hm”, brummt Léonide. “Setzen wir uns ins Wohnzimmer? Ich ziehe mir einen Morgenmantel an und du machst uns Tee? Mir ist nämlich recht frisch außerhalb meines Bettes.”
Sonja nickt. “Ich, ja”, sagt sie. “Ich habe eigentlich überhaupt keine Chancen, dass Luna sich je für mich interessieren wird, oder?”
“Eins nach dem anderen.” Léonide lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
Als Sonja in der Küche hantiert, taucht Marcin doch auf, und zwar nicht von oben, sondern aus Kendras Zimmer. Wenn sie von Paolo nichts Genaueres wüsste, was sie eigentlich nichts angeht, hätte sie nun vielleicht gedacht, Marcin ließe nichts anbrennen, – und schämt sich für den Gedanken. Über all die Jahrhunderte Leben hat Sonja die Gelegenheit doch nicht genutzt, sich die Diversität unter den Menschen genauer anzusehen. Misanthrop von den Haarspitzen bis in die Zehen ist sie. Menschen sind ihr einfach zuwider.
“Ich habe wohl die Absicht gehabt, Luna dich auch umbringen zu lassen”, gibt sie ihm gegenüber zu. Es wird durch Lauden Léonide von Horstenfels gleich ohnehin herauskommen.
“Das überrascht mich nicht”, sagt Marcin.
Auf seiner Schulter sitzt ein kleiner, schwarzer Drache, den Sonja eben noch nicht gesehen hat, und faucht sie an. Er erinnert sie an Luna. Sie muss lächeln.
Auch Kendra sitzt schlaftrunken mit am Tisch, als Sonja und Marcin den Tee liefern, – und einen Kakao für Kendra. Die zwei sehen schon ein wenig aus wie Liebende, findet Sonja. Sie versucht, keine Schlüsse zu ziehen.
“Kommen wir direkt zur Sache”, sagt Léonide. “Du möchtest eine Chance haben, mit Luna eine ungefähr beliebige Beziehung anzufangen, solange es keine reine Hassbeziehung ist. Soweit richtig?”
Sonja lächelt resigniert. “So etwa, ja. Eine, in der sie mich mag, wäre optimal. Oder, Moment, das wäre das beste, was ich zu hoffen wage. Optimal wäre, wenn sie mich mindestens so mag wie euch. Vielleicht ein bisschen liebt.” Sie seufzt. “Aber ich mache mir da nicht viele Hoffnungen. Ich spiele Spiele mit ihr, die sie in die Enge treiben. Weil ich mal nicht durch sie in die Enge getrieben sein will.” Sonja verheddert sich in Gedanken fast so sehr wie in dem Seil vorhin. “Es ist eine lange, komplexe Geschichte.”
“Ich lasse das mal so im Raum stehen”, sagt Léonide. “Das andere Thema ist Paolo. Dass du gerade heute Nacht zu Marcin wolltest, legt nahe, dass Paolo im Wald ist.”
Sonja seufzt sehr leicht. “Ja, deshalb bin ich hier. Er befindet sich in Lunas Fängen. Und sie lässt sich offenbar Zeit. Beziehungsweise ließ sich zumindest zu dem Zeitpunkt noch Zeit, als ich noch in der Nähe war.”
“Ich fasse dein Verhalten mal etwas unverblümter zusammen, ja?”, mischt sich Kendra ein. “Du legst es in deinen Konversationen mit Paolo darauf an, dass er irgendwann in den Wald spaziert, um Luna zu töten. Mir erschließt sich noch nicht ganz, warum er dann an einem Abend in den Wald spaziert, an dem Luna vermeintlich die Nacht hier verbringen wird, aber sei das mal kurz dahingestellt. Vielleicht muss sich Paolo auch sicher genug fühlen, um es zu tun. Deine Absicht dabei ist aber eigentlich, dass Luna ihn entweder tötet, oder in die Bredouille gerät, eine Person nicht zu töten, die in ihren Wald kommt, um sie zu ärgern. Damit nicht genug beobachtest du Paolo oder Luna so lange, bis du herausfindest, dass Paolo dort ist. Und dann gehst du zu Marcin, um ihm von deinen Beobachtungen zu erzählen. In der Absicht, dass auch er zu Luna in den Wald geht, was sie in eine noch komplexere Bedrullie bringen wird, weil sie Marcin sogar sympathisch findet.”
Sonja blickt Kendra eine Weile an. “Ja”, gibt sie zu. “Da lässt sich nicht viel dran schönreden.” Sie seufzt. “Ich habe Paolo erzählt, dass die Mondklinge in Lunas Wald liegt und das einzige Instrument wäre, das sie töten könne. Die Mondklinge ist dort, aber sie ist nicht dazu da, irgendwen zu töten, und ich hätte die Mondklinge gern für mich. Es ist so eine Art Musikinstrument.”
Marcin horcht auf und grinst sofort über sich selbst. Er hat bisher sehr wenig gesagt.
Obwohl es um seinen Freund geht. Getrennt oder nicht, sie haben sich gegenseitig sehr gern. Hat Sonja bis jetzt zumindest geglaubt. Und wenn Menschen sich mögen, wollen sie sich meistens irgendwie retten.
“Jedenfalls denke ich, dass ich die beste Strategie für uns alle habe, zu erreichen, was wir jeweils wollen”, sagt Léonide. “Luna lässt nicht gern mit sich spielen. Also wird sie nicht glücklich darüber sein, wenn Marcin als nächstes den Wald betritt. Es ist am sinnvollsten, wenn das eine Person tut, die Luna nicht töten kann.”
“Ich”, schaltet Sonja sofort. “Aber…”
“Du kannst zu ihr gehen und ihr klar sagen, was du willst. Meiner Erfahrung nach ist mit Luna am besten Kirschen essen, wenn man ihr erklärt, welches Machtgefälle existiert und gemeinsam angegangen werden muss”, führt Léonide fort, ohne Sonja zu Wort kommen zu lassen. “Und du kannst als einzige Person von uns überhaupt zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit Paolo retten. Wenn es noch nicht zu spät ist.”
Kendra hätte mit ihren Teleportationsfähigkeiten vielleicht eine Chance, aber dass diese noch nicht ausreichend ausgebildet sind, wissen sie alle.
“Luna hat mir versichert, dass, wenn sie die Absicht haben sollte, Paolo etwas anzutun, sie es ab dem Moment nur um so schneller tun werde, wenn ich den Wald betrete”, sagt Marcin. “Mit anderen Worten, ich kann nichts für Paolo tun. Daher würde ich dich bitten, zu sehen, was du tun kannst.”
Sonja wägt den Vorschlag ab. Sofort fragt sie sich, was für sie bei dem Plan rausspringt. Aber vielleicht sollte sie sich das nicht fragen. Viel bohrender ist die Frage, was sie dabei verliert. Sie hat dann ein Spiel gegen Luna aufgegeben. Ist ihr unterlegen. Sie will ihr nicht in allen Punkten unterlegen sein. Sie will ihr in manchen Punkten unterlegen sein. Und auch das zerreißt sie innerlich oft. Weil sie nicht bloß ein Opfer für Luna sein will. Sie will auch selbstbestimmt sein. Luna ist so einschüchternd.
Sie seufzt. “Ich tue es.” Es ist ein großer, mutiger Schritt von ihr. “Wenn Luna mir ausweicht und nicht mit mir reden mag, dann”, sie zögert, “ich will sie eigentlich nicht bedrängen.” Sie löst schweren Herzens die Spange aus ihrem Haar und legt sie auf den Tisch. “Sagt ihr ‘Danke’ von mir, für das große Geschenk, das dieser Teil von ihr eine Weile bei mir sein durfte.”
Sie weint ein wenig, als sie die Villa verlässt.
Ein schiefes Reihenhaus, das mal sehr lebendig war, im Dorf. In einem Zimmer brennt noch Licht. Ein Sorgenseufzen so tief, dass es das ganze Haus spürt.
Luna bleibt aus Respekt noch einen Moment stehen, bis das Seufzen sich verloren hat. Erst dann nähert sie sich dem Schlafzimmerfenster im ersten Stock über das Mäuerchen zum Hof und klopft sachte.
Angela springt erschreckt von ihrem Tisch auf, atmet einige Male zur Beruhigung ein und aus und tritt ans Fenster. Ihre Miene verliert wieder an Hoffnung. Es ist nicht die Person, auf die sie gehofft hat. Sie öffnet das Fenster trotzdem. “Wenn du ihn umgebracht hast, werde ich einen Weg finden, um es dir heimzuzahlen. Verlass dich darauf!”, schleudert sie der Vampirkreatur entgegen.
“Ich weiß”, sagt Luna schlicht.
Einen Moment sehen sie sich einfach bloß an. Dann macht Angela Platz und Luna springt von der Mauer durchs geöffnete Fenster. Sie landet leichtfüßig vor Angela. Dicht. Spürt die Schwere ihrer Gefühle. Sie hält sich mühsam davon ab, sie zu berühren. Es wäre eine Berührung mit Trost darin geworden, aber auch mit Mordlust. Stattdessen schließt sie das Fenster. Sie tut es langsam und betrachtet noch ein paar Momente den verwahrlosten Hof, um Angela den Raum zu geben, für sich zu weinen.