Paartanz
Nurek
Nurek kniete in ihrem Bett, das direkt in die Fensternische gebaut war, und blickte die Schneelandschaft an. Es war so schön! Und Marim täte es wahrscheinlich in den Augen weh. Er hatte oft Schwierigkeiten mit zu weißen Flächen, aber ignorierte es, solange es ging.
Die Neujahrsfeier lag hinter ihnen, aber Marim war einfach geblieben. Er fragte ungefähr jeden Tag, ob er doch zu viel würde, er besser abreisen sollte und jedes Mal versicherten sie ihm, dass er bleiben möge, solange er wollte. Nurek erwischte sich bei dem Gedanken, dass sie schön fände, zöge er einfach ganz ein. Er war nicht aufdringlich, verbrachte viel Zeit mit sich selbst, half mit, wenn Gemeinschaftsarbeit anfiel und wenn er Gesellschaft mochte, stand seine Tür offen oder er hielt sich im Gemeinschaftsraum auf, sodass sie ihn aufsuchen konnte. Manchmal saß sie auch schon da, wenn er kam, zum Beispiel sich mit Ivaness unterhaltend. Dann legte er seinen Kopf in ihren Schoß und genoss, wie sie durch diese wundervollen, feinen Haare fuhr, während sie sich weiter unterhielt. Sein Kuschelkrokodil lag dabei oft in seinen Armen.
Ihr Zimmer hatte er bislang noch nicht betreten, noch nicht einmal in der Tür gestanden, wenn diese offen stand. Sie fragte sich, warum. Und dann fragte sie ihn einfach:
Nurek: Scheust du dich davor, mein Zimmer zu betreten?
Marim antwortete häufig rasch, es sei denn, er war in einem Versuch. Aber das kündigte er normalerweise vorher an. Dieses Mal dauerte es eine Weile. Nurek versuchte, darein nicht zu interpretieren, dass etwas nicht stimmte. Er konnte auch einfach etwas essen oder so.
Marim: Ja.
Marim: Wenn du möchtest, dass ich reinkomme, komme ich. Aber ohne direkte Einladung würde ich das nicht tun.
Nurek fing eine Nachricht an zu tippen, ob sie sich ihm aufgedrängt hätte, als sie in sein Zimmer gegangen war. Aber sie löschte sie wieder, als sie sich daran erinnerte, dass sie das gefragt hatte, bevor sie es getan hatte. Nur eben von sich aus.
Nurek: Komm rüber, wenn du magst.
Kurz darauf hörte sie seine leisen Schritte auf dem Flur. Er schlurfte nie. Dann stand er in der Tür. Dieser kleine Elb mit den geringelten Strümpfen und glitzernden Strumpfbändern, heute wieder in einer kurzen, grauen Hose und einer ärmellosen, weichen Bluse in schlichtem rot. Er lächelte nur ein wenig, als er durch ihr Zimmer blickte. Über die Bilder an den Wänden, nur flüchtig über den chaotischen Schreibtisch, dann zu ihr aufs Bett, wo sie im Schneidersitz saß und wartete, bis er mit dem Verarbeiten von Eindrücken halbwegs fertig war.
Dann klopfte sie auf das Bett neben sich. Er grinste und folgte der Einladung. Sein Blick fiel wie automatisch aus dem Fenster. Er beschwerte sich nicht über das Weiß. “Wow.”, murmelte er. “Eine Fensterbettnische ist einfach das Optimum eines Schlafplatzes.”
Sie nickte. Irgendetwas schnürte ihr die Luft ab. Vielleicht der Gedanke, die weiche Bluse anzufassen und ihn vorsichtig zu streicheln. Vielleicht die Verliebtheit. Ob die wohl irgendwann nachließ?
“Magst du mich?”, fragte sie. Sie realisierte erst hinterher, dass sie die Frage gestellt hatte. Es war eine Stim-Frage, aber davon kannte er doch viele noch nicht.
Er blickte sie überrascht an. Dann nickte er energisch. “Hast du irgendwelche Zweifel?”, fragte er. Er wirkte auf einmal selbst verzweifelt.
Nurek schüttelte kurz den Kopf, ohne ihn aus den Augen zu lassen. “Manchmal höre ich es gern, wenn Leute es sagen.”, erklärte sie. “Und ich bin dann so dreist, nachzufragen.”
Marim streckte die Hand aus und strich ihr kurz über die Wange. “Ich mag dich. Sehr.”, sagte er sanft. “Du darfst das immer fragen. Dann sage ich es dir.”
Die Stelle, wo er sie berührt hatte, fühlte den Reiz noch intensiver nach, als sie die Berührung selbst gefühlt hatte. Nurek lächelte und ließ sich im Schneidersitz nach hinten umfallen. Leider hatte sie die Strecke bis zur Wand falsch eingeschätzt und stieß sich den Kopf, aber da sie gewohnt war, Strecken falsch einzuschätzen, hatte sie sich vorsichtig fallen lassen und es tat nicht schlimm weh. Die Dehnung in den Beinen tat für ein paar Momente gut, dann streckte sie sie an der Fensterseite hinter Marim entlang aus und verschob ungeschickt den ganzen Körper ein wenig, bis ihr Kopf nicht mehr bei jeder Bewegung mit der Wand kollidieren würde.
Marim folgte ihren Bewegungen aufmerksam mit dem Blick, machte ihr ein wenig Platz, und als sie ruhig lag, legte er sich mit einer halben Armlänge Abstand neben sie. Das war dicht. Das war romantisch dicht. Es war diese Distanz, die eine Spannung aufbaute, die sie gerade mit niemandem sonst teilen mochte. Nurek atmete etwas langsamer und angespannter. Viele hätten schneller geatmet, aber bei Nurek waren solche Reaktionen wie Puls und Atmung genau umgekehrt. Bei Aufregung hatte sie einen niedrigen Puls und atmete weniger.
Sie spürte Marims Atem im Gesicht, nur ein wenig, nur gerade so, dass es nicht störte. Außerdem liebte sie, wie der Atem roch. Und bei ihm merkte sie, dass er etwas schneller atmete.
“Wie fühlt es sich für dich an?”, fragte er.
Nurek schluckte. “Aufregend.”, sagte sie. “Romantisch. Ich spüre das Verliebtsein stärker. Ich mag die Spannung. Die, dass wir uns noch nicht berühren, aber irgendwann vielleicht schon. Die Nähe, die ich so nur mit dir mag. Und auf diese Art vielleicht intim.”
Marim lächelte, als sie wieder auf in sein Gesicht blickte. “Dann warte ich vielleicht noch, bis ich dich anfasse.”
Nurek fühlte, wie sich alles in ihr zusammenzog. Sie wollte die Gegenfrage stellen, aber brauchte eine Weile, bis sie Sprache wieder ansteuern konnte. Marim wartete freundlicherweise, bis sie fragte: “Und für dich?”
“Ähnlich.”, leitete er ein. “Ich fühle dabei noch, dass ich in deinem Zimmer bin. Das fühlt sich nach Vertrauen an, dabei weiß ich gar nicht, wieviel es ist. Aber eben, als dürfte ich in deinem Leben sein.”
Nurek nickte hastig. “Auf jeden Fall!”, sagte sie. “Also, Zimmer ist schon persönlich, das auch. Aber da gibt es Persönlicheres, was ich schon mit dir teile, glaube ich.” Auch, wenn ihr gerade nichts einfiel. “Ich möchte dich in meinem Leben haben.”
“Es fühlt sich intim an, und romantisch. Aber ich bin vielleicht etwas ungeduldig.”, sagte er. “Ich würde dich am liebsten streicheln oder in den Arm nehmen, wenn du das magst.”
Nurek atmete bewusst tief ein und aus, weil sie inzwischen so wenig geatmet hatte, dass ihr etwas schwummrig geworden war. Dann grinste sie kurz über sich selbst und nickte. Aber Marim rührte sich nicht.
Er hielt sich dann wohl zurück. Sie wusste nicht, wie mühsam. Sie wollte ihn anfassen, damit er wusste, dass es okay wäre, aber sie brauchte noch eine ganze Weile, bis ihr Körper ihr gehorchte. Als er soweit war, streckte sie ihre Hand vorsichtig aus und berührte den dicken, weichen Stoff der Bluse an seiner Hüfte, ohne ihn auf seinen Körper zu drücken. Er zuckte. Es kitzelte wohl. Aber er wehrte sich nicht. Nurek bemühte sich trotzdem, ihn so anzufassen, dass es weniger kitzelte. Er hielt sich noch eine ganze Weile zurück, aber als sie vorsichtig anfing, sein Haar zu streicheln, waren sie auf einmal ein Körperknäuel. Seine Brille landete irgendwo auf ihrem Nachttisch. Er hielt sie fest, streichelte sie erst sanft, dann kräftig, und dann wieder sanft, meist über den Rücken, aber auch über ihre Arme. Und ihre Beine verknoteten sich kurz ineinander.
Später lagen sie sich entspannt in den Armen und bewegten sich nicht mehr. Dieses Mal lag ihr Kopf unter seinem Kinn und seine Arme überall über ihren Rücken verteilt. Er lag mehr auf dem Rücken, sie mehr auf der Seite. So konnte das bleiben.
Nurek realisierte, dass sie gerade planlos ohne Zeitdruck in den Tag lebte, und das war auch irgendwie sehr schön. Ihr eines nacktes Bein lag zwischen seinen bestrumpften Füßen. Bei der Gelegenheit fiel ihr wieder einmal auf, dass sie tatsächlich ähnlich groß waren. Das war ein beinahe ungewohntes Gefühl.
“Ich habe eine Frage an dich, die mir aber ein bisschen unsensibel vorkommt.”, leitete Nurek ein.
“Frag, und ich sage dir direkt dazu, ob sie es ist.”, erwiderte Marim.
“Okay.”, sagte Nurek. Und trotzdem brauchte sie ein bisschen, bis diese eigentlich sehr simple, schon fertig formulierte Frage wirklich ausgesprochen werden mochte. “Bist du Waldelb?”
“Ja.”, sagte Marim. “Solange du nicht irgendwie anfängst zu fragen, ob ich denn was mit Wäldern zu tun habe, ein besonderes Gespür dafür hätte oder einen Drang, in einem zu leben, finde ich die Frage in diesem Moment nicht unsensibel.”, erklärte er. “Es ist allerdings kompliziert. Ich werde das wegen meiner Größe oft gefragt. Aber Größenvariationen gibt es unter allen Elben. Manche Waldelben sind groß, manche andere Elben klein. Es nervt auf Dauer, dass Leute fragen, wirkt meist oberflächlich oder als wollten sie mich damit in eine Kategorie einordnen, die ich nicht einmal verstehe. Bei dir habe ich den Eindruck nicht. Aber ich kann nicht beantworten, warum nicht, oder ob das Sinn ergibt.”
Nurek grinste. “Puh, Glück gehabt, würde ich sagen.”
“Vielleicht kennst du solche Fragen auch in Hinblick auf das Glasauge?”, fragte Marim.
“Mehr wegen der Augenhöhle, aber ich treffe nicht so oft völlig neue Leute.”, erwiderte sie. “Oh, das könnte auch noch interessant auf einem Live-Konzert werden: Wie reagiere ich darauf, dass Leute deswegen auf mich irgendwie reagieren?”
“Ich habe tatsächlich eine persönliche Glasaugenfrage, bei der ich meinerseits nicht so sicher bin, wie sensibel sie ist.”, sagte Marim.
“Gleiche Bedingungen umgekehrt.”, beschloss Nurek.
“Wäre es mit heutiger Medizin und Technik möglich, dass du ein Auge bekämst, dass an dein Gehirn passende Seh-Signale sendet?”, fragte er. “Ist das in irgendeiner Form sinnvoll ausgedrückt?”
“Ich verstehe, was du meinst.”, versicherte Nurek. Sie spürte, wie innerlich in ihr eine Mauer hochfuhr, wie immer, wenn dieses Thema angesprochen wurde. “Es gibt mehr oder weniger erfolgreiche Eingriffe, ja. Es ist dabei nicht ganz klar, ob ich nach so einem Eingriff auch 3D-sehen lernen könnte. Gehirne sind verschieden in der Lage, so etwas nachzulernen. Es gibt inzwischen auch unterstützende Stimulationsverfahren mit verhältnismäßig hohen Erfolgsquoten. Ist deine nächste Frage, ob ich das möchte?”
Marim nickte. “Wenn sie okay ist. Du wirkst gerade nicht so.”
Wow, war er sensibel. Nicht einmal ihr Geschwister merkte immer, wenn ihre Mauern hochfuhren. “Ich reiße es an und setze Grenzen.”, sagte sie. “Ich möchte das nicht, zumindest erstmal. Aktuell ist meine Angst, dass sich durch den Eingriff gleich viele Dinge verbessern wie verschlechtern. Es ist ein neuer Reiz der dazukommt, an den ich mich gewöhnen müsste, und ich weiß, wie schwer mir so eine Veränderung fallen kann. Gleichzeitig kann etwas dazukommen, was ich gut finde, sodass ich dann da sitze und die Wahl habe: Richtig schlimm dauerreizüberflutet zu sein, aber in 3D, oder zurück aber mit dem Wissen wie 3D sein könnte, wenn ich mich nur dran gewöhnte. Und so wichtig, dieses Risiko einzugehen, kommt mir 3D dann doch nicht vor.”
Marim nickte. “Das klingt irgendwie sehr nachvollziehbar und verständlich. Selbst, wenn ich vor so einer Entscheidung nie stand.”
“Es nervt eben eher, dass ich dadurch einen gewissen Ausschluss erfahre, aber für die meisten Dinge gibt es automatische Konvertierung in 2D, und mein persönliches Umfeld macht das sogar oft mit, wenn ich dabei bin, siehe Film.”, fuhr sie fort. “Bei diesem wäre es ja möglich gewesen, dass ihr 3D guckt, während ich 2D sehe, aber du hast es trotzdem nicht getan.”
“Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Anuka das gemacht hat.”, murmelte Marim. “Ich fand es, wie gesagt, mal wieder sehr spannend, einen Film in 2D zu sehen.”
“Linoschka macht da auch solidarisch mit.”, sagte Nurek. “Sie meint, wir reden sonst manchmal anders darüber, hinterher. Was ich mir gerade bei dem surrealen Film gut vorstellen kann.”
Marim nickte. “Ich mir auch ein wenig. Ich bin unsicher.”
“Zurück zum Punkt.”, sagte Nurek. “Diese Umstellung hätte mir im Kindesalter vielleicht nicht so viel ausgemacht. Aber ich bin in einem toxischen Umfeld groß geworden, in dem ich nicht die Möglichkeit habe wahrnehmen können. Wenn diese Frage gestellt wird, die du da gestellt hast, bilden sich bei mir Mauern, um nicht über diese Zeit zu reden. Das mache ich nur mit psychologischen KIs, und habe einmal mit einer Outernet-Therapieperson gesprochen. Ich weiß, wie ich mir selber helfen kann, und ich möchte darüber mit dir nicht reden.”
“Das ist in Ordnung.”, versicherte Marim. “Ich werde niemals nachfragen. Möchtest du, dass wir das Thema wechseln?”
“Ja bitte.”, bat Nurek. Sie merkte, wie sie anfing, leicht zu zittern. Nur ein wenig. Vielleicht musste sie an das Thema noch einmal mit einer psychologischen Hilfestellung herangehen. Aber gerade wollte sie nicht.
“Als nächster Punkt auf der Liste steht eine größere Party mit nicht vertrauten Leuten.”, sagte Marim. “Das ist ein nervlich auch anspannendes Thema, aber ein anderes, oder? Passt das als Thema?”
Nurek nickte. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, welcher Punkt das auf der Liste war, die sie abarbeiten wollten, um für das Live-Konzert mit Schabernakel zu proben. Oder eben, um auszuprobieren, ob es überhaupt Sinn ergab, zusammen dort hinzugehen. Aber während sie sonst damit gut umgehen konnte, wenn etwas scheitern könnte, war ihr die Anspannung gerade zu viel. Sie schüttelte doch den Kopf. “Kannst du mich fest in den Arm nehmen und mir etwas vorsingen oder mir von deiner Studie erzählen?”
Marim folgte der Aufforderung und erzählte ihr von einer recht frischen Virtualität, die sich eine Person gewünscht hatte, die damit einverstanden war, dass sie in die Galerie gestellt würde. Es handelte sich um eine Bibliothek mit Büchern, die quasselten, die sich gegenseitig darüber austauschten, welche Charaktere in ihnen so vorkamen und jene verglichen. Oder sie waren neidisch, weil andere Bücher ein Happy End hatten und sie nicht, oder umgekehrt. Bücher, die von den Besuchenden regelmäßig zu Ruhe aufgefordert wurden, aber das Gequassel nicht lassen konnten. Es war eine witzige Virtualität, bei der sie sich viel über den Sinn austauschen konnten: Warum gingen Personen überhaupt in eine Bibliothek mit quasselnden Büchern, wenn sie das Gequassel störte?
Als sie aufwachte, war es späte Nacht. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie eingeschlafen war. Marim schlief leise neben ihr und sah dabei friedlich aus. Er schnarchte nicht. Sie hatten noch nie beieinander geschlafen, fiel ihr dabei auf. Ihr Blick fiel auf den Himmel, der einen blassen Grünstich hatte. Nordlicht, aber kein so sehr beeindruckendes. Aber Nordlicht! Marim hatte noch keines gesehen. Sie blickte ihn eine Weile an und überwand sich dann, ihn zu wecken. Er wachte so langsam auf, als wäre er wirklich tiefenentspannt gewesen, und wirkte auch im verschlafenen Wachzustand noch sehr entspannt.
“Nordlicht.”, flüsterte Nurek.
Marims Blick wanderte aus dem Fenster. Eine ganze Weile sagte er nichts. Dann: “Gehen wir raus?”
Nurek nickte. “Die andere Seite des Himmels ist wahrscheinlich rötlich.”, sagte sie. “Es ist eher von der langweiligeren Sorte, aber es ist trotzdem Nordlicht!”
Sie behielt recht. Als sie zitternd draußen im Schnee standen, weil ihre Körper wegen der Müdigkeit nicht stark genug gegenan heizten, wölbte sich über sie ein Himmel, der auf der einen Seite grünlich und auf der anderen Seite rötlich war. Es wurde vielleicht langsam stärker und dann wieder schwächer, aber so langsam, dass es kaum mit bloßem Auge auszumachen war. Marim nahm Nurek gegen die Kälte von hinten in den Arm. Auch wenn sie das Phänomen schon einige Male gesehen hatte, war es immer wieder wunderschön und beeindruckte sie, egal, was sie Marim vorher geschrieben hatte.
“Hättest du eigentlich eine Idee für eine größere Party mit überwiegend fremden Leuten?”, fragte Nurek.
“Meine Tante hat mich zu einem Ball eingeladen.”, sagte Marim. “Sie kennt sehr viele Leute und schmeißt sehr große Partys. Sie sind meist Internet-Outernet-Hybriden. Es gibt Live-Musik, und einen Tanzraum nur für Outernet-Teilhabe, aber die Musik wird auch in Virtualitäten übertragen und dort wird auch getanzt. Ich war bisher zwei Mal auf so einem Ball.”
“Hast du vor, da zu tanzen? Hast du es gelernt?”, fragte Nurek.
“Ich habe es so ein bisschen gelernt, nicht viel. Mit meiner Tante habe ich allerdings immer gern getanzt. Sie führt aber auch einfach sehr gut.”, antwortete er. “Kannst du tanzen?”
“Schon ja.”, sagte Nurek zurückhaltend. “Es ist zehn Jahre her. Ich habe mit meinem Geschwisterherz Paartanz gelernt.”
“Paartanz ist das wesentliche Programm.”, sagte Marim. “Aber es gibt auch immer wieder Reihentänze dazwischen. Die sehen sehr schick aus, weil alle das Gleiche machen. Es gibt einfache und schwierige und Übungen, sodass möglichst alle, die möchten, bei ein paar mitmachen können, aber es werden auch richtig fortgeschrittene Tänze vorgeführt werden.”
Nurek nickte. Es klang interessant, und enorm stressig. Also genau der Stresstest, den sie eigentlich wollte. Sie bemühte sich, den inneren Drang, einfach abzulehnen, niederzuringen.
“Kannst du denn führen?”, fragte Marim.
“Ich habe auch eher folgen gelernt.”, sagte Nurek. Sie spürte dabei kurz das Gefühl, dass etwas zwischen ihnen nicht perfekt zusammenpasste, was irgendwie ungewohnt und dadurch befremdlich war. Aber auch vorhersehbar, dass so etwas passierte, und eigentlich echt unwesentlich. Ein albernes Gefühl.
“Ich würde vermuten, wir schaffen es trotzdem irgendwie, etwas zu tanzen, wenn du willst.”, sagte er. “Es gibt ja auch die koränischen Tänze unter den Paartänzen, wo Führ- und Folgefiguren sich kaum unterscheiden.”
“Das stimmt.”, sagte Nurek. “Bei denen habe ich auch am ehesten mal ausprobiert zu führen.”
“Oder wir müssen Ivaness mitnehmen.”, schlug Marim vor. “Oder durchkreuzt das den Plan von fast niemanden kennen?”
Nurek nickte sachte. “So gern ich as dabei habe, ich glaube, wenn es mir nicht gut ginge, wäre as dann die Person, die sich kümmern würde, und nicht du. Das wäre kein hilfreicher Stresstest.” Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: “Dein Vorschlag ist wirklich ein krasser Stresstest.”
“Zu krass?”, fragte er.
“Gib mir noch einen Tag, mich da reinzufühlen.”, bat Nurek.
Paartanz. Sie hatten, kurz nachdem sie die Lerngruppe mit den anderen verlassen hatte, gemeinsam Ferien in Geesthaven verbracht, wo über den Sommer über draußen viele Tanzkurse angeboten wurden. Und ganz viele andere Dinge. Dort hatte sie auch Grundlegendes zu Tauchen und Schnorcheln gelernt. Aber einige von ihnen hatten auch einen Tanzkurs mitgemacht. Weitergetanzt – dann in Online-Kursen – hatten nur zwei Paare, Mø und Julipp, mit dem sie eine Fernbeziehung führte, und eben Ivaness und sie. Irgendwann waren andere Hobbys mehr in den Vordergrund gerückt und sie hatten damit aufgehört.
Nurek stand nun halb unschlüssig im Gemeinschaftsraum. Sie war vor Marim aufgewacht, der sich nicht einmal gerührt hatte, als sie über ihn drübergestiegen war. Die Terrassentür stand offen und kalter Schneewind ohne Schnee wehte herein. Eben Wind, der nach Schnee roch, aber es schneite gerade nicht. Linoschka war draußen mit ihrer Morgenroutine beschäftigt – nachdem sie Schnee geschippt hatte.
Eigentlich wollte Nurek mit Ivaness testweise tanzen, wie es sich nun anfühlte, aber as schlief noch. Sie hatten eingerichtet, dass sie sich gegenseitig einen Weckton schicken könnten, wenn es emotional gerade sehr schlimm war. Aber so schlimm war es dann vielleicht doch nicht. Dachte Nurek, als sie merkte, dass sie schon wieder leise Pflanzennamen vor sich hinmurmelte und die Haptik der Worte im Mund auskostete. Das konnte auch ein Zeichen sein, dass sie sich sehr wohl und zu Hause fühlte, aber gerade war es Anspannung.
Sie beschloss, dass sie Linoschka nicht im Gemeinschaftsraum stehend zusehen wollte, was dieser den Eindruck vermitteln könnte, es wäre akut ein Problem zu lösen, und machte es sich stattdessen gemütlich: Sie druckte sich in der Küche einen Monua – ein herbsüßes Genussgetränk –, lieh sich Ivaness’ warmen Mantel von der Garderobe und setzte sich draußen zu Linoschka in den Schaukelstuhl. Linoschka war bei den Liegestützen angekommen. Mit fingerlosen Handschuhen auf den gefegten Steinen. Die Finger waren rot, aber Linoschka hatte, außer genau währenddessen und kurz danach, nie kalte Hände. Sie bekam in regelmäßigen Abständen zu hören ‘Ich könnte das ja nicht!’ und reagierte regelmäßig mit der Antwort, dass Körper und Bedürfnisse eben verschieden wären. Niemand müsste, und sie kostete es keine Überwindung, weil es eher ihr Körper war, der die Bewegung und Kälte einforderte.
Nurek fragte sich oft, ob es eine erwartete oder angemessenere Reaktion auf so einen Kommentar gab. Es kam ihr vor wie Floskelsalat, auf den eigentlich eine entsprechende Floskelsalatsoße gehörte, aber Linoschka erklärte eher, dass der Salat zu einfach gedacht war. Für Nurek erschlossen sich die Bedürfnisse der Kommentierenden nicht. Und für Linoschka wahrscheinlich auch nicht.
Linoschka schloss das Training mit einer Dehnungs- und Entspannungsübung ab. Die Endhaltung war ein Knien auf dem Boden. Ihre Oberschenkel wirkten dabei breiter und vielleicht muskulöser als sonst, und Nurek hatte das aus ihr unerfindlichen Gründen schon immer gefallen.
“Willst du draußen bleiben, oder setzen wir uns rein?”, fragte Linoschka.
Nurek dachte länger über die Frage nach, bis sie zum Ergebnis kam, dass sie keine Antwort hatte. “Heute ist einer dieser Tage, an dem Entscheidungen nicht gehen.”, sagte sie.
“Dann machen wir die Sache dazwischen.”, sagte Linoschka. “Wir setzen uns rein, aber lassen die Tür noch offen.”
Nurek nickte, und verfrachtete den Schaukelstuhl, den sie gerade erst rausgestellt hatte, wieder hinein. Sie bekam es kaum auf die Reihe. Der Prozess beinhaltete, dass sie die Tasse Monua zuvor auf den Tisch drinnen stellen musste und vermeiden musste, sie direkt nach dem Abstellen umzuschmeißen, weil sie mal wieder nah dran war, zu vergessen, dass zum Abschluss des Abstellens auch das Loslassen gehörte. Als sie im Schaukelstuhl saß, reichte Linoschka ihr die Tasse, weil Nurek sie schon wieder vergessen hatte. “Das ist ja schlimm heute mit mir.”, murmelte Nurek.
“Das kriegen wir hin. Ich bin da.”, beruhigte Linoschka sie.
Das war eine der schönsten Antworten, fand Nurek, die auf so eine Bemerkung gegeben werden konnte. Es wurde ihr nicht abgesprochen, dass es schlimm war. Sie wurde einfach vollständig ernst genommen.
Linoschka organisierte sich ein kühles, flüssigeres Getränk und setzte sich Nurek gegenüber in einen Schneidersitz. Sie wirkte, als habe sie sehr viel Zeit.
Nurek erzählte ihr holprig, was gerade anstand, und es kam ihr lächerlich vor, dass es sie so stresste.
“Verstehe ich das richtig, es geht um die Entscheidung, ob du auf einen Outernet-Ball gehst?”, fragte Linoschka.
Nurek nickte.
“Und du fragst dich das an einem Tag, an dem dir Entscheidungen generell schwer fallen?”, fuhr sie fort.
“Oh.”, sagte Nurek. “Daher kommt der unerwartete Stressanteil.”
Linoschka grinste kurz. “Ich verstehe aber auch, dass du die Entscheidung gern gefällt hättest.”
Nurek nickte. “Die Offenheit der Entscheidung stresst sehr. Ich würde gern mit meinem Geschwisterherz tanzen, um mich in die Entscheidung reinzufühlen.”
“Weck Ivaness.”, riet Linoschka.
“Meinst du wirklich, dass das dringend genug ist?”, fragte Nurek.
“Das war der Versuch, dir die Entscheidung abzunehmen.”, erklärte Linoschka. “Ob du dir das gefallen lässt, entscheide ich nicht für dich.”
Nurek entschied, sich das gefallen zu lassen. Es dauerte trotzdem noch eine ganze Weile, bis sie sich überwand, das Signal an Ivaness auch tatsächlich zu senden.
Als Marim endlich zu ihnen in den Gemeinschaftsraum stieß, hatten sie die Möbel umgestellt und die WG-Musikanlage wieder in Betrieb genommen. Über diese konnte in jedem Raum die gleiche Musik gehört werden. Sie hatten sie lange nicht benutzt, weil sie sich eher an Musikübertragung über Hinterohrhörer – diese arbeiteten mit etwas ähnlichem wie Knochenschall – oder Hörimplantate gewöhnt hatten. Ivaness hatte aber gemeint, dass Musik über Boxen für das Reinfühlen in eine Ballsituation mit Live-Musik besser wäre, weil der Schall mit dieser eben doch nicht überall gleichverteilt war. Ivaness versuchte Nurek rudimentär beizubringen, zu führen. Linoschka sah an sich zu, war aber auch überwiegend in irgendein Projekt an ihrem Faltrechner vertieft. Marim setzte sich dazu. Im Gegensatz zu Linoschka war er voll dabei. Und das machte Nurek ziemlich nervös. Als sie merkte, dass die Anspannung zu groß wurde, pausierte sie. Sie fragte sich, wie das denn werden sollte, wenn es ihr auf dem Ball auch so ginge. Ob Marim irgendwelche Erwartungen an sie hätte, dass sie viel tanzen würde.
Aber als Ivaness nun Marim aufforderte, änderte sich ihr Gefühl überraschend. Ivaness tat es irgendwie provokant. As fragte es nicht sachlich, sondern winkte ihn mit einem Finger zu sich. Marim stand nervös auf und folgte der Aufforderung. Ivaness hatte eine liebevoll sadistische Art zu führen. As war herausfordernd, immer etwas mehr Figuren führend, als Marim kannte, und er stolperte oft, aber es lag Albernheit und Provokation in der Stimmung, die das ganze entspannte. Vielleicht hätte es nicht jede Person so mit sich machen lassen, aber Marim zeigte damit keine Probleme. Das brachte Nurek dazu, auch mit Marim tanzen zu wollen, auch wenn sie wohl Ivaness Führungsstil nicht nachahmen können würde.
Sie probierten es. Es war tatsächlich alles sehr unbeholfen. Nurek hatte überhaupt kein Training, zu führen. Sie tauschten auch mal Rollen, aber Marim ging es nicht anders.
“Erwartest du mehr Können für den Ball?”, fragte Nurek.
“Im Gegenteil.”, sagte Marim. “Ich wäre mit dir da auch hingegangen, ohne ein einziges Mal mit dir zu tanzen, wenn das für dich nichts gewesen wäre. Es ist eine lockere Veranstaltung. Da tanzen viele sehr holprig und probieren sich eben aus.”
Nurek atmete erleichtert aus. Dann gleich noch einmal, weil es so gut getan hatte.
Sie setzten sich zusammen und Ivaness, Linoschka und Nurek löcherten Marim über jedes Detail, wie so ein Ball ablaufen könnte. Es wäre nicht sein erster Ball dieser Art.
“Oh, vielleicht ein wesentliches Detail:”, fiel ihm plötzlich ein. “Ich trage zu so einem Anlass gern Mode des Adels von vor so 400 Jahren aus, so im Dreh, weil ich sie sehr schön finde.”
“Das ist wirklich wesentlich.”, meinte Nurek. “Dann muss ich mich ja fragen: Will ich das auch?”
“Macht ihr dann Partnerlook? Oder Kleidung, die so zusammenpasst, dass ihr als Paar erkennbar seid?”, fragte Ivaness.
“Tragen viele Leute dort so etwas?”, fragte Nurek.
Marim ignorierte die erste Frage und beantwortete erst einmal nur Nureks: “Ja. Nicht die Mehrheit. Es gibt eher so eine Gruppe von 20 bis 30 Leuten, die aus diesem immer noch recht groß gefassten Moderepertiore dieser Jahrhunderte aus verschiedenen Regionen Ardas, wo es ansatzweise vergleichbare Monarchien gab, Kleidung wählt. Es gibt auch traditionell ein paar Tänze, bei denen genau die Personen aufgefordert werden, die Kleidung auszutragen. Aber es gibt auch ganz andere alte Moderepertoires die vorgeführt werden und eigenen Raum bekommen.”
“Ich geb mir das.”, entschied Nurek. “Ich weiß nicht, ob es meins ist, aber es gibt inzwischen so viel daran zum Ausprobieren und ich liebe Ausprobieren. Ich komme mit!”
Der Ball fand in Rumpf statt. Das war verglichen mit anderen typischen Orten, die sich für Veranstaltungen dieser Größe eigneten, gar nicht so weit weg. Vielleicht etwas mehr als eine Stunde Fahrt. Marim und Nurek einigten sich darauf, mit dem Zug hinzufahren, und auf dem Rückweg, je nach Energie, dann die Fähre zu nehmen oder wieder ohne Umstieg den Zug.
Die Kleidung hatten sie in einer Virtualität ausprobiert, und sie würde dann in der Herberge bereitliegen. Die Kleider hatten den gleichen Schnitt, aber Teile der Farben waren jeweils vertauscht, sodass es nicht Partnerlook war, aber nah dran.
Sie kamen im Entendorf unter. Es wohnten inzwischen sogar viele Enten hier, niemand wusste so recht, wer dafür verantwortlich war, dabei hatte es ursprünglich gar nichts mit Enten zu tun gehabt. Es hatte mal Studentendorf geheißen, als die ehemalige Universität Rumpfs noch hauptsächlich physisch besucht worden war und nicht virtuell und dezentral. Einige der Labore waren noch in Betrieb, aber große Teile der Uni waren zu Veranstaltungsräumen geworden, weil sie schon damals mit ausgezeichnetem Parkett ausgelegt worden waren. Das war im Rahmen der Deloquenz-Bewegung geschehen, wie Marim sie scherzhaft nannte, die gegen das Gatekeeping vorgegangen war, was denn eine Wissenschaft sein dürfte und was nicht. Es war gerade im Gespräch gewesen, ob das Studentendorf in Studierendendorf umbenannt werden sollte, aber eine Mehrheit hatte sich zum Spaß für die Umbenennung in Entendorf entschieden, zumal die Wohnungen nun überwiegend von temporären Besuchenden genutzt wurden und gar nicht mehr von Studierenden. So, wie Marim und Nurek das nun taten.
Aus entsprechend naheliegenden Gründen hatten Nurek und Marim auf dem Weg dahin angefangen, sich in Quak-Lauten zu unterhalten. Ohne viel Inhalt, eher um die jeweils eigenen Stimmen zu hören und miteiander zu interagieren. Vielleicht war es eine sehr neuroatypische Interpretation von Smalltalk.
Sie ruhten sich einen Moment aus, aßen etwas und zogen sich dann bereits um. Das hatten sie sich so überlegt, um auf diesem Ball ein vergleichbares Stresslevel zu dem eines Live-Konzerts zu erreichen. Obwohl dafür eigentlich zu viele Komponenten unbekannt waren, um zu entscheiden, welche Planung am nächsten daran käme.
Nurek hatte sich inzwischen die Liste noch einmal angesehen. Es stand als nächstes noch Zelten an, und dann bereits der letzte Punkt, Absprachen mit Notfall-Ansprechpersonen. Eigentlich war die Liste nicht mehr sehr lang, aber weil die Punkte so groß waren, fühlte es sich für Nurek nicht so an, als hätten sie schon über die Hälfte abgearbeitet.
Der Weg zum Veranstaltungsgebäude führte über eine lange Brücke über einen tiefer gelegenen Fahrradweg durchs Grüne. Nurek mochte und genoss den Weg sofort.
Sie hätte sich nicht gewundert, wenn Marim High Heels getragen hätte, aber seine Schritte waren sehr leise. Sie versuchte sein Schuhwerk zu erhaschen, aber der Rock war zu lang.
“Darf ich dir unter den Rock gucken?”, fragte sie und fühlte sich dabei albern und dreist.
“Öh, warum?”, fragte Marim.
“Muss auch nicht, ich wollte nicht drängen.”, ruderte Nurek rasch zurück. “Ich war neugierig auf dein Schuhwerk. Das hatte ich nicht mitbekommen.”
Marim blieb stehen und machte eine sehr elegante Bewegung, bei der er ein Bein ausstreckte und den Rock selbst etwas lüftete. Er war so gut in solchen Bewegungen, fand Nurek. Er trug sehr flache, weiche, dünne Schuhe. Welche, die auch zum Tanzen geeignet sein könnten, aber dazu konnten sie sich am Veranstaltungsort auch Schuhe leihen.
“Die Ringelstrümpfe!”, jubelte Nurek. “Du hast immer noch Ringelstrümpfe an.”
Marim nickte gewichtig, zog den Rock nah am Bein noch weiter hoch, um ihr auch kurz das Strumpfband zu zeigen. Dann ließ er ihn sinken und strich sich das offene Haar zurück. “Ich mag Ringelstrümpfe und Strumpfbänder einfach sehr.”
“Ich glaube, ohne dich hätte ich dazu keine Meinung, aber ich mag, dass sie Teil von dir sind und als solchen freue ich mich einfach jedes Mal.”, sagte Nurek. Aber dann überlegte sie noch einmal gründlicher. “Doch, Ringel an Füßen und Unterbeinen mochte ich auch schon, bevor ich dich kannte.”
Marim lächelte verlegen den Boden an.
Von außen wirkte das Gebäude unscheinbar. Vielleicht, wie eine alte Kantine, ursprünglich einmal weiß verkleidet, aber das Material war angelaufen und hatte nun einen strähnigen, beige-cremigen Farbton. Innen hätte es vielleicht auch unscheinbar ausgesehen, aber zu diesem Zeitpunkt waren die Wände und Säulen im Eingangsbereich in dunkle, schalldämpfende Tücher verpackt, auf die zurückhaltend leuchtende LEDs angebracht waren. Die meisten waren weiß, aber manche auch gelblich, rötlich oder bläulich, sodass es den Eindruck eines Nachthimmels erweckte.
Der Tanzschuhverleih war Nurek zu voll. Marim organisierte, dass sie sich mit ein paar Schuhen zum Testen in einen Raum zurückziehen konnten.
“Das hätte mit Vortesten in einer Virtualität besser organisiert werden können.”, merkte Nurek an.
“Das stimmt. Ich gebe das an meine Tante weiter.”, antwortete Marim.
“Wie heißt die Tante eigentlich?” Nurek sollte sich vielleicht wundern, nachdem sie ein paar Monate sehr oft über diesen Ball gesprochen hatten, dass sie das noch nie gefragt hatte.
“Mallil.”
Marim zeigte ihr das Gebäude. Es gab viele Treppen und Aufzüge, ebenerdig einen riesigen Saal, im ersten Obergeschoss mehrere kleinere, die aber auch noch groß genug waren, um gemütlich zu tanzen, und im Kellergewölbe ein großes Becken. Hier hatte das ausgehängte Tuch eine andere Konsistenz und leuchtete selbst, aber nicht überall, sondern eher in Schlieren. Sie waren sehr früh da, deshalb war es noch relativ leer. Nur zwei Nixen, die im flachen Wasser am Rand des Beckens lagen, waren in ein leises Gespräch vertieft. Sie trugen zur Deckenverkleidung passende Kleider und die implantierten Schuppen leuchteten ebenfalls.
Nixen waren den Grenlanndwalen ähnlich, teils von ihnen geboren, teils von anderen Nixen, und hatten für gewöhnlich keine Schuppen – außer vielleicht die Schuppen, die manche Personen, ob Nixe oder nicht, eben auf der Kopfhaut produzierten. Aber viele Nixen verzierten ihren Körper im Laufe ihres Lebens mit Schuppen, die sie durch eine alte Implantierungstechnik halb in den Körper einbrachten, so ähnlich, wie manche Personen Ohrringe oder Piercings trugen. Für die Implantierungstechnik gab es einen eigenen Namen, den Nurek vergessen hatte, aber Nixen übersetzten es meist mit Implantieren ins Kadulan. Nurek fragte sich, ob die Schuppen schon beim Implantieren Leuchtschuppen gewesen waren, oder ob für heute etwas auf sie aufgetragen worden war, wie vielleicht Nagellack. Bei dem Gedanken warf sie einen Blick auf Marims halb abgeblätterten Nagellack. Den hatte sie auch immer gemocht.
Die beiden Personen hatten ihr Gespräch unterbrochen und blickten zu Marim und Nurek auf. “Wollt ihr euch dazusetzen?”, fragte die eine. “Wobei, die Kleider sehen nicht so wasserfest aus. Aber wir können auch näher ans Ufer.”
Marim blickte Nurek fragend an. Nurek war unentschieden, aber nickte schließlich. Aus seiner Körpersprache wagte sie zu schließen, dass er vielleicht wollte. Und sie hatte eben auch nichts dagegen.
Es machte Nurek Spaß, ihre komplizierten Röcke zu sortieren, als sie sich auf ein Kissen nahe des Wassers setzte. Auch die Kissen hatten diese Konsistenz, die die Deckenbehängung hatte. “Was ist das für ein Material?”, traute sie sich zu fragen.
Die beiden Fremden waren nähergerückt und hatten sich wieder niedergelassen. “Gummerlatech heißt die Pflanze, glaube ich.”, sagte die eine Nixe und sah die andere an. “Oder?”
“Ja.”, bestätigte diese. “Gemeinhin und unspezifischer auch bekannt als Alge. Aber das Leuchten kommt nicht von der Pflanze, sondern von Mikroorganismen, die das beim Verdauen tun.”
“Essen sie den Gummerlatech auf?”, fragte Marim grinsend.
“Das Gummerlatech.”, korrigierte die zweite Nixe. “Nein. Gummerlatech in verarbeiteter Form ist gefühlt unzerstörbar. Daher ist es ja auch so ein beliebtes Material für Stoffe. Also, für Leute und Orte, die permanent mit Wasser in Berührung kommen. Wir haben es heute mit leckeren Sporen besprüht. Ungefährlichen. Und dann die Gespensterkrabsen dran gelassen. Das sind die, die so leuchten.”
“Es ist wunderschön!”, sagte Nurek.
“Es ist definitiv sehr beliebt.”, sagte die Person. “Auch der Spritztanz mit Lichtshow heute im Programm, falls ihr Lust habt.”
Nurek hatte überlegt, ob eine Vorstellungsrunde gut wäre, aber sie würde sich Namen von heute ohnehin nicht merken können. Vielleicht dachten die anderen genau so.
Marim holte seinen Taschenrechner hervor. “Meine Tante hat gerade ein paar Momente Ruhe und Zeit, ist in einem ruhigen Raum und fragt mich, ob ich sie sehen und ihr mein Herzwesen vorstellen möchte. Magst du?”
Nurek nickte.
Es brauchte bis nach der Vorstellung und ihrem gemeinsamen Erkunden, wie Nurek sich mit Trinken versorgen würde, bis Nurek ihr Planungsproblem verstand. Sie wollte zum Spritztanz mit Lichtshow gehen, das interessierte sie sehr. Aber das Problem war, dass sie vorher wissen musste, wie nass sie dabei werden würde, und was sie täte, wenn sie hinterher nasse Kleidung auf der Haut hätte, die störte. Sie hätte sich wahrscheinlich darüber informieren können, wie es ablaufen würde und was sie dahingehend zu erwarten hätte. Die Feier war mit einer dafür zuständigen KI versorgt, die über jedes Detail so Bescheid wusste, wie das eben im Rahmen von etwas Unvorhersehbarkeit möglich war, und alle Fragen beantwortete. Sie war auch dafür zuständig, mögliche Probleme zu klären oder Kompromisse zu arrangieren. Irgendwann waren zum Beispiel vorübergehend die Symbole, die die Toiletten auswiesen, größer und leuchtender geworden. Nurek waren sie nur durch die Veränderung aufgefallen.
Aber sie war nicht in der Lage, mit der KI zu kommunizieren, weder schriftlich noch mündlich, weil Marim bei ihr war und ihr Kopf meinte, es wäre ein unerträgliches Gefühl, nicht instant gesprächsbereit für ihn zu sein. Also versuchte sie, ihn anzusprechen, und als Reden nicht funktionieren wollte, nahm sie sich eines der dafür gedachten Schreibpads von der Wand, um ein handschriftliches Gespräch mit ihm zu führen. Ihre Schrift war wie eh und je sehr krakelig, aber das Pad glättete sie automatisch in etwas Lesbares.
Marim las die Fragen, nickte vor sich hin und erklärte schließlich: “Ich war da schon ein paarmal. Es wird niemand nassgespritzt. Eigentlich ist vorgesehen, dass nicht einmal ein Tropfen außerhalb des Beckens landet, aber manchmal sind unerfahrenere Tanzende dabei und dann gibt es vielleicht mal den ein oder anderen Tropfen, aber mehr nicht. Im Wesentlichen geht es darum, dass aus Wasserfronten mit entsprechender Beleuchtung bewegte Kunst gezeigt wird.”
Nurek wollte sagen, dass sie noch nie live bei so etwas dabei gewesen wäre und sich freute, aber ihr kam kein Ton aus dem Mund.
Marim schlug vor, ein wenig rauszugehen und zu entspannen und dann vielleicht zu tanzen. Nurek nickte bloß. Allerdings fragte sie sich auch, ob sie bei einem Live-Konzert von Schabernakel auch irgendwann rausgehen müsste, aber es dann keine Möglichkeit gäbe.
Sie hatten sich vielleicht eine halbe Stunde ausgeruht und angefangen, sich wieder zu unterhalten – die Fähigkeit, sprechen zu können, war so uneingeschränkt wieder da, dass Nurek sich kaum mehr an das Gefühl erinnern konnte, es nicht zu können –, als eine Person in einem weichen Schlafanzug vor Marim trat, die ihn kannte. Nurek hatte einige Personen in gemütlicher Nacht- oder Wohlfühlbekleidung gesehen. Es sollte auch einen improvisierten Kuscheltanz geben, an dem einige von ihnen teilnehmen würden.
“Hi!”, grüßte die Person Marim und fragte mit einer Geste nach einer Umarmung, die Marim erwiederte. Dabei drückte sich sein Rock von der Person weg. Sie war etwas größer als er. Sie wandte sich Nurek zu und stellte sich vor: “Ich bin Vronika. Sie, ihr, ihr, sie, oder auch they, their, them, them, das ist mir gleich.”
“Nurek, sie, ihr, ihr, sie.”, stellte Nurek sich vor.
“Seid ihr zusammen hier?”, fragte Vronika, aber schien sich dann kurz über sich selbst zu ärgern und fügte hinzu: “Vielleicht sollte mir das klar sein. Ihr habt zusammengehörende Kleidung.”
Marim nickte. “Wir sind wohl auch sowas wie ein Paar. Ich bin nicht sicher, ist das ein Begriff, der für dich gut klingt, Nurek?”
Nurek nickte zögernd. Er fühlte sich technisch passend an, aber sie mochte ihn irgendwie nicht. “Ich muss vielleicht darüber nachdenken.”
“Musst du nicht.”, widersprach Marim. “Wir können auch einfach keinen Namen dafür haben.”
“Schön miteinander seid ihr jedenfalls.”, sagte Vronika. “Wie ist das, Marim: Sind Fragen, die den meisten viel zu direkt und aufdringlich vorkommen, immer noch okay für dich?”
Marim nickte.
“Ich weiß nicht, ob ihr die ganze Zeit beieinander sein wollt. Aber falls nicht, hättest du Lust auf etwas One-Night-Stand-Artiges?”, fragte Vronika.
Wow, dachte Nurek. Das war direkt zum Punkt kommend. Aber irgendwie war es ihr auch sympathisch. Vronika stand fast zwei Meter von Marim entfernt und nichts an ihrem Auftreten wirkte, als könnte they eine Grenze nicht absolut respektieren.
“Wir sind heute die ganze Zeit beieinander.”, sagte Marim. “Du darfst wieder fragen, aber heute möchte ich nicht.”
“Du musst nicht auf mich Rücksicht nehmen.”, machte Nurek klar. Es war ihr ein Bedürfnis. Sie wollte Marim wirklich nicht einschränken. Er erzählte ihr fast nichts von seinem Sexualleben, aber sie wusste schon, dass er gelegentlich mit eher oberflächlichen Bekanntschaften sexuelle Dinge ausprobiert hatte und er grundsätzlich auch ein Bedürfnis nach diesem Ausprobieren hatte.
Marim sah sie sanft lächelnd an. Er sagte nicht gleich etwas. Vielleicht musste er dafür länger nachdenken. “Ich möchte unabhängig von irgendwelchen Absprachen gern den ganzen Tag und die ganze Nacht mit dir verbringen. Solange du möchtest zumindest.”, sagte er schließlich. “Aber ich bin zugleich auch hier, weil wir eine Absprache haben. Und mein Eindruck ist gerade, dass du siehst, hier könnte irgendwas sein, was mir besser gefallen könnte, als mich an diese Absprache zu halten, und du deshalb gewillt bist, weniger Rücksicht auf dich selbst zu nehmen. Kann das sein?” Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: “Ich glaube, das war nicht perfekt ausgedrückt. Weißt du trotzdem ungefähr, was ich meine?”
Nurek nickte. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Sie spürte, dass ihre Augen feucht werden wollten, aber konnte nicht genau erfühlen, ob sie es auch taten. Sie presste ihren Kopf gegen Marims Schulter und er nahm sie in den Arm.
“Aw!”, sagte Vronika. “Sollte ich vielleicht nicht sagen, weil es so verniedlichend wirkt. Ich meine einfach: Es ist so schön zu beobachten, wie ihr für einander gut seid! Ich verziehe mich mal. Vielleicht sehen wir uns später noch, ja?”
Marim bestätigte und kurz darauf waren Marim und Nurek mit sich und ihren Gefühlen wieder allein.
Sie tanzten nur für etwa eine halbe Stunde, dann war bei Nurek die Energie raus. Sie zitterte und es ging eigentlich nichts mehr. Trotzdem wollte sie noch ein bisschen beim Vortanzen verschiedener Gruppen zuschauen. Der Spritztanz mit Lichtshow fand gegen Mitternacht statt. Etwa ein Zehntel der Personen, die mitspritzten, waren keine Nixen, sondern gehörten zum Fußvolk, wie Nixen Orks, Elben, Lobbuds, Menschen, Zwerge und andere Völker oft zusammenfassten. Sie trugen Flossen für beide Füße zusammen, oder sogar Fischschwänze zum Überziehen und machten mit. Nurek bekam Lust, so etwas auch lernen zu wollen. Vielleicht irgendwann, sollte sie zwischen all ihren anderen halb angefangenen Projekten mal eine Lücke und einen Anlass finden.
Die Show war sehr beeindruckend. Die Tanzenden formten Wassermassen zu Formen, die auf Nurek beinahe physikalisch unmöglich wirkten – aber das machte auch der Lichteffekt –, und die dieses Gefühl von Sanftheit und Glattheit mitbrachten, das sie hatte, wenn sie ihren Finger in die Wasserfläche steckte, die dabei entstand, wenn ein Wasserstrahl in einen Löffel oder eine kleine Schale traf.
Sie war froh, hinterher nicht alleine den Weg nach Hause finden zu müssen. Marim hätte vielleicht länger ausgehalten, aber er sagte nichts dazu, begleitete sie einfach. Und sie ließ sich fallen. Sie war auch froh, direkt danach nicht allein zu sein. Das hinterließ oft bei ihr ein Loch, eine plötzliche Einsamkeit. Sie schliefen nebeneinander, ohne sich anzufassen. Und sie wachte von frisch gedrucktem Frühstück wieder auf, das Marim ihr und sich neben das Bett brachte.