Sitznesseln

Nurek

Sie flatterte, während sie von ihrem Zimmer auf die Terrasse und zurück ging, und dabei sehr sauber artikuliert Pflanzennamen aussprach. “Brennnessel” zum Beispiel, oder “Buchweizen”. Das Flattern bestand aus dem Wedeln mit den Armen und Schütteln der Hände, sodass Wind über die Haut strich und sich die Gelenke ganz locker anfühlten. Stimmen war dran. Es war lange nicht mehr so intensiv gewesen. Sie war hochangespannt und unter einer Oberfläche enormer Nervosität eigentlich recht gut gelaunt.

Irgendwann kam Linoschka aus ihrem Zimmer und breitete fragend die Arme aus. Nurek ließ sich einfach gegen diesen großartigen Menschen plumpsen und Linoschka schloss die kräftigen Arme um sie, schaukelte sie sachte hin und her. Nurek nahm ihr Körperfett, ihre Muskeln, ihre ganze Struktur und Haptik gleichzeitig am eigenen Körper wahr. Es war vertraut. Personen, die sie nicht haptisch schon gekannt hätte, hätten sie nicht anfassen dürfen.

“Willst du reden?”, fragte Linoschka.

Nurek nickte. Das wollte sie.

Draußen am Tisch saß Tjaren. Linoschka fragte, ob sie störten, wenn sie sich dazusetzten, aber Tjaren hieß sie sogar willkommen. Es war angenehm kühl, aber vielleicht etwas windig. Leichtere Dinge, die auf dem Tisch platziert worden wären, wären einfach weggeflogen, und die Prideflaggen, die an verschiedenen Stellen am Haus montiert waren, flatterten kräftig im Wind, falteten immer wieder für eine Weile eine Ecke um, die sich erst nach einer Weile wieder sortierte. Nurek musste darauf starren, und als sie es bemerkte, setzte sie sich auf die andere Seite des Tisches, sodass sie in den Garten hinabsah, das Haus im Rücken.

Sie kannte sehr viele Pflanzennamen, wusste aber von vielen nicht, was für Pflanzen sich dahinter verbargen. Es war einfach nur ein Stimm, sie hatte irgendwann als Kind alle Pflanzennamen in einem kleinen Pflanzennachschlagewerk auswendig gelernt, einfach nur, weil sich die Wörter gut im Mund anfühlten. Tjaren dagegen kannte viele Pflanzen und kümmerte sich am meisten um den Garten. Tjaren pflanzte Kräuter, Gemüse und Blumen, die Insekten total toll fanden.

“Was, wenn es ein Erotikfilm wird? Oder eben ein Film mit Erotik- oder Sexszenen oder sowas?”, fragte Nurek. “Ist sicher unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen! Aaaaah!”

“Ich bräuchte mehr Kontext.”, stellte Linoschka freundlich fest.

“Marim hat mich zu einem Kinoabend in eine Virtualität eingeladen.”, erklärte Nurek.

“Und er hat mit solchen Details gespart, zu sagen, welcher Film?”, fragte Tjaren. “Oder wird es ein Überraschungsfilm.”

“Ich gehe von ersterem aus, aber es könnte zusätzlich auch das zweite sein.”, antwortete Nurek nachdenklich. “Ich habe nicht gefragt, und ich finde es irgendwie auch spannend, mich überraschen zu lassen.”

“2D?”, fragte Linoschka.

“Ja, darum habe ich gebeten.”, antwortete Nurek.

Irgendwo in ihrem Hinterkopf stellte sich Nurek vorsichtshalber darauf ein, dass eins der beiden Mitbewohnenden fragen könnte, inwiefern das ein Date sein könnte oder etwas in der Richtung. Aber entweder dachten sie gar nicht daran, oder überließen es Nurek, das zur Sprache zu bringen, falls sie wollte.

Eine starke Windböe wirbelte durch Nureks Haare. Das Meeresrauschen in einiger Entfernung nahm langsam zu. Ein Spaziergang würde gut tun, aber erst einmal zu Ende erzählen.

“Eigentlich hat ein Herzwesen von ihm ihn eingeladen und gefragt, ob er mich mitbringen möchte.”, erzählte sie. “Ich habe dann gefragt, ob ich auch ein Herzwesen mitnehmen darf.”

“Klingt nur gerecht.”, sagte Tjaren lächelnd. Tjaren war damit beschäftigt, eine filigrane Figur aus einem Töpfermaterial zu formen. Tjarens Hände waren schmierig davon und Tjarens Blick konzentriert.

Nurek sah Linoschka an. Sie hatte sich gefragt, ob sie Linoschka oder ihr Geschwister fragen sollte. Sie hatte Ivaness sehr, sehr gern. As gab ihr viel Sicherheit. As hatte diese Fähigkeit, wenn etwas Ungerechtes passierte, es sofort zu merken und anzusprechen. Für Marim brauchte Nurek das nicht. Sie hatte keine Ahnung, wie es sich mit Marims Herzwesen verhielt.

Trotzdem fühlte sie sich mehr danach, Linoschka zu fragen, und fragte sich, warum, aber kam nicht zu einer sinnvollen Antwort. “Hättest du Lust, mitzukommen?”, fragte Nurek.

Linoschka sah in den Himmel und dachte nach. Am Himmel fegten große Wolkenschwaden sowie dünnere Wolken in einer Schicht darunter, die sich langsamer in eine andere Richtung bewegten. “Wow, die Wolken sind schön!”, rief Linoschka, bevor sie antwortete.

Nurek nickte. Das waren sie in der Tat.

“Ich hätte schon Lust.”, sagte Linoschka schließlich. “Ich bin nervös, aus ähnlichen Gründen wie du neulich. Aus Erzählungen weiß ich ja jetzt ein bisschen Bescheid über Marim, aber er weiß nichts von mir. Und wenn wir vorher nicht wissen, was für ein Film das wird, dann wäre mir lieb, wenn du vorher herausfinden könntest, ob Feindlichkeit gegenüber Noldafin ein Thema ist. Die Inhaltswarnung bräuchte ich.”

“Das kann ich fragen.”, sagte Nurek zu. “Das ist vielleicht auch eine Gelegenheit, zu fragen, ob Erotik vorkommt. Das ist nun nichts, was mich triggert, aber das Thema und Darstellungen davon nerven mich einfach und ich finde Austausch von Körpersäften auch echt eher eklig.”

“Ich weiß.”, sagte Linoschka mit einem vielleicht nachsichtigen Lächeln im Gesicht. Nurek ließ sich darüber häufiger aus.

Nurek holte ihren Taschenrechner aus der Tasche und tippte eine Nachricht mit den Fragen an Marim.

“Da ist noch was, was ich dich immer mal fragen wollte.”, sagte Nurek und fühlte sich sehr unsicher dabei. “Hast du eine Meinung zu Schabernakel?”

“Marim mag die Band auch?”, fragte Linoschka, statt zu antworten.

Nurek nickte.

“Oh!”, rief Tjaren. “Heißt das, du findest vielleicht endlich eine Person, die mit dir zu einem Live-Konzert geht?”

“Vielleicht. Das steht noch nicht ganz fest.”, antwortete Nurek.

“Natürlich nicht. Aber als Option?”, fragte Tjaren.

Nurek gluckste ein bisschen, weil sie das eben ja schon beantwortet hatte und nickte einfach noch einmal.

“Ihr braucht von mir keine Genehmigung, um eine nöldische Band zu mögen.”, sagte Linoschka. “Jedenfalls.”, schob sie nach. Das machte sie manchmal.

“Ich weiß.”, sagte Nurek. “Ich weiß nur keine Meinung einer nöldischen Person aus meinem Umfeld zur Band, und frage mich manchmal, wie ich sie einordnen soll. Ob meine Art, sie zu feiern, irgendwie problematisch ist und ich das nicht merke. Aber ich sollte nicht dich, nur weil ich dich zufällig kenne, zu allen möglichen Dingen fragen, ob sie vielleicht Noldafin-feindlich sind.”

“Du hast mich noch nie zu etwas gefragt, und du darfst mich das immer fragen, ich habe potenziell nur vielleicht keine Ahnung, weil ich nicht alle Kunst und so kenne.”, sagte Linoschka sachlich. Dann wirkte sie nachdenklich. “Doch, du hast mich einmal gefragt. Noch recht am Anfang, als wir uns kennengelernt haben. Zu einem Film, ob ich die Darstellung gut fände.”

Nurek nickte. Sie erinnerte sich noch gut, obwohl es schon über acht Jahre her war. Sie hatte seit dem tatsächlich zu nichts weiterem etwas gefragt, aber Linoschka hatte von sich aus manchmal über ein Medium, das sich mit Noldafin befasste, erzählt, wie es ihr gefallen hatte oder Nurek Sicherheit gebende Überlegungen zur Einordnung dargelegt. Über die Band Schabernakel hatte Linoschka nie etwas gesagt. Nureks Unterbewusstsein hatte geschwankt zwischen ‘nun ist es zu spät zu fragen, wo doch die Band seit Jahren bekannterweise meine Lieblingsband ist’ und ‘Wäre etwas an meinem Umgang problematisch und fiele es Linoschka auf, hätte sie das wahrscheinlich gesagt’. Aber nun, als die Planung, die Band live zu hören, konkreter wurde, stellte sie diese bohrende Frage eben doch.

“Schabernakel macht so metal-artige Musik, die eben nicht so richtig meins ist.”, sagte Linoschka. “Ich finde an der Band sehr cool, dass sie ihr eigenes Ding macht, und sich nicht daran orientiert, was Leute so erwarten, wenn sie ‘nöldische Band’ hören. Außerdem mag ich die Texte so an sich. Sie sind gleichzeitig fröhlich, haben aber eine gewisse Düsternis in der Fröhlichkeit und verbalisieren Widerstand und Auflehnung. Ich finde mich als nöldische Person in dem Gefühl wieder, dass es schon einen Widerstand darstellt, einfach nur glücklich zu sein. Das bringen die Texte teils gut rüber. Einige verstehe ich auch nicht. Und ich mag den Musikstil eben nicht, einfach Geschmackssache, keine Kritik.”

“Danke.”, sagte Nurek. Sie betonte es auf eine Weise, dass das Herzchen, das sie in einer schriftlichen Message dahintergesetzt hätte, hoffentlich hörbar war.

Linoschka lächelte und blickte sie einmal kurz an dafür. “Gern.”

Sie saßen ein paar Momente einfach still da. Der Wind fegte ein Blatt über den Tisch, dass sich ausgerechnet an Tjarens Kunstwerk heftete. Tjaren entfernte es vorsichtig und strich über die Stelle. Es wirkte so liebevoll, dass Nurek sich kurz wünschte, diese Skulptur zu sein, nur mit weniger Schleim am besten.

Nurek hörte das leise Geräusch, das ihr mitteilte, dass ihr eine Person eine Nachricht geschrieben hatte. Diese Hörimplantate die zunehmend moderner wurden und mit dem Internet verbunden waren, hatten außerdem die beste Soundqualität, die hergestellt werden konnte, verdeckten die Ohren nicht, waren also kein seltsamer Reiz irgendwo auf der Haut und sie konnten nicht vergessen werden. Sie sah auf ihrem Taschenrechner nach. Die Nachricht war von Marim. Die Wahrscheinlichkeit war etwa zwei Drittel gewesen, schätzte sie. Marim erzählte, dass es kein Erotik-Film war, und keine Noldafin-Feindlichkeit vorkam. Es kamen auch keine ausführlichen Sex-Szenen darin vor. Er hatte nicht nachgeforscht, ob kurze, angedeutete vorkämen, aber schickte Nurek einen Link auf einen Content-Note-Generator. Dieser gab nicht preis, um welchen Film es sich handelte, aber sie konnte jede beliebige Frage zum Film stellen, und eine KI generierte aus ihnen korrekte Antworten. Nurek hatte irgendwann einmal eine kleine Datenbank verfasst, welche Themen für sie NoGos waren und auf welche sie wie viel Lust hatte, die genau dafür gedacht war, an so einen Generator geschickt zu werden. Sie konnte mit Schiebereglern sogar tagesformabhängig angepasst werden. Aber sie verzichtete darauf. Wenn solche Szenen höchstens am Rande vorkämen, wollte sie es dieses Mal gern austesten. Sie würde Körpersaftaustausch immer noch nicht mögen, aber sie interessierte auch, wie Marim darauf reagieren würde oder was für Gespräche sich dabei ergeben würden.

Sie gab die Informationen an Linoschka weiter, worauf Linoschka noch einmal bestätigte, dass sie mitkommen würde.


Später am Tag ging sie mit Linoschka spazieren. Sie hatte nach ihrem Gespräch erst einmal gegessen und dann Marim gefragt, ob sie sich vorher noch einmal treffen oder schriftlich unterhalten wollten. Letzteres taten sie eigentlich ohnehin viel, nur eben keine konzentrierten, längeren Gespräche, sondern eher nebenbei. Aber es hatte sich eine weitere Versuchsperson bei Marim gemeldet und er wäre erst am Abend wieder ansprechbar, und dann wahrscheinlich nicht mehr sehr konzentriert.

Konzentrationsprobleme kannte sie von ihm schon. Es fühlte sich plötzlich so an, als würden sie sich gleichzeitig schon lange kennen, und gerade erst kennengelernt haben.

Einen Spaziergang hatte sie ohnehin noch vorgehabt, und als Linoschka sie fragte – per Chat im selben Haus, und da gab es auch überhaupt nichts zu kritisieren, dass es ihnen so leichter fiel –, stimmte sie mit einem vorfreudigen Gefühl ohne Zögern zu.

“Ich möchte auch was erzählen.”, sagte Linoschka, als sie Röbersjard hinter sich gelassen hatten und auf einem Heideweg Richtung Wald spazierten. “Erst, wenn du fertig bist, falls es noch etwas zu Marim und Kino zu sagen gibt.”

“Ich bin fertig!”, versicherte Nurek.

“Ich habe mich endlich in ein Ringtraining getraut.”, sagte Linoschka unsicher. Sie sprach nicht direkt weiter.

“Was ist das?”, fragte Nurek also.

“Ich trainiere seit, ich glaube, acht Jahren jetzt Orkando. Das ist ein Kampfsport, der in Ork-Kulturen entstanden ist. Er ist sehr vielfältig, und eigentlich ist Kampf auch nicht immer eine treffende Bezeichnung dafür. Es geht dabei auch viel um Kommunikation, um das Wahrnehmen einer anderen Person und ihrer Gefühle mehr durch den Körper als durch Worte.”, erklärte Linoschka. Sie runzelte die Stirn und wirkte noch unsicherer. “Eigentlich finde ich das zu einfach heruntergebrochen. Ich mag jedenfalls die Philosophie dahinter. Aber ich habe es bis jetzt nur mit KIs trainiert, also, mit von Virtualitäten generierten Personen, die auf mich und meine Fähigkeiten zugeschnitten waren.”

Nurek nickte. “Du bist sehr unsicher.”, sagte sie zurückhaltend. “Das ist in Ordnung. Aber kannst du den Grund dafür verbalisieren?”

“Ja.”, sagte Linoschka sachlich. “Ich habe ein Universum im Kopf und nicht einen Faden. Von diesem Universum weiß ich nicht, welche Vorkenntnisse du hast.”

Das verstand Nurek gut. “Danke.”, sagte sie und lächelte.

Eine Windböe wirbelte feines Laub durch die Luft, und fühlte sich nass an, obwohl es noch gar nicht regnete. Es war schön. Nurek liebte diesen Ort für das Wetter, das von anderen meist ungemütlich genannt wurde, wenn sie draußen waren, und gemütlich, wenn sie es durch ein Fenster sahen. Nurek fand es in beiden Fällen gemütlich.

“Ich möchte dir eine bestimmte Sache erzählen, und würde am liebsten einfach einen Datenbankabgleich mit den Grundlagen mit deinem Gehirn machen, aber das geht eben nicht.”, sagte Linoschka.

Nurek grinste einmal sehr. “Das wäre cool.”, sagte sie. Sie dachte automatisch darüber nach, ob es Lösungen geben könnte, die es zumindest ein bisschen vereinfachen würden. “Du könntest mir irgendwelche Stichworte geben, über die ich mich informieren soll.”, schlug sie vor.

Linoschka schüttelte den Kopf. “Dann müsste ich länger warten. Und eigentlich bin ich fast am Punkt.”, sagte sie.

Linoschkas graues Kleid aus weichem, festem Stoff hob sich im Wind. Das tat es selten, weil der Stoff so schwer war, nicht der Flattertyp von Stoff. Darunter trug sie eine Strumpfhose, die Mø gestrickt hatte, aus dicker Wolle. Sie trug außerdem Sandalen. Linoschka mochte es, wenn der Wind durch die Maschen in die Kleidung eindrang, aber die Kleidung selbst trotzdem wärmte.

Nurek mochte Linoschkas Stil, weil sie sich dabei nur um sich selber kümmerte. Linoschka wählte, was sich für sie gut anfühlte, und ihr war völlig gleich, was andere dazu sagten. Nurek ließ ihr Zeit, bis sie einen Ansatz hatte, wie sie fortfahren wollte, und sprach solange nicht.

“Ein Ringtraining bezeichnet Training mit zufällig zusammenortierten Paaren. Der Begriff leitet sich davon ab, dass früher Personen dazu zwei Kreise gebildet haben, einen inneren und einen äußeren. Dann wurde eine Zahl gewürfelt und der innere Ring hat sich entsprechend viele Personen weiterbewegt.”, erklärte Linoschka. “Heute passiert das per Losverfahren. Eine Gruppe wirft sich als Ganzes in einen Lostopf, und Paare werden ausgelost. Dabei passiert es, dass die gleichen Paare auch noch einmal zusammengewürfelt werden können, und das ist auch bewusst so, damit ein Kennenlernen möglich ist.”

Nurek nickte. Sie konnte nicht vermeiden, dass sich ihr Kopf nun mit Losverfahren und deren Optimierung auseinandersetzte. So ein Fall, dass ein Paar sich immer wieder bildete, war bestimmt auch nicht so erwünscht. “Wie war es?”, fragte sie, statt diese Gedanken zu teilen.

Linoschka reagierte nicht sofort, und sagte dann: “Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht.”

“Musst du auch nicht. Dann geht es dir um was anderes?”, fragte Nurek.

Linoschka grinste. “Ja. Aber es ist trotzdem eine spannende Frage.”, sagte sie. “Ich glaube, ich war eben zu sehr mit dem Gefühl Nervosität ausgefüllt, als dass da noch viel Raum für ein gut oder mittel gewesen wäre. Es war nicht schlecht, sonst wäre ich gegangen. Und es ging dabei darum, an einem Tag mit etwas mehr Energie dort hinzugehen, weil es eben überhaupt ging und nicht von vornherein zu viel war. Und weil es nicht schlimm war, kann ich das nun wieder machen, bis ich mich gewöhne, und es dadurch überhaupt erst gut werden kann, weil dann Raum für solche Gefühle da ist.”

“Das klingt gut.”, sagte Nurek. “Also, es klingt dann so, wie der bestmögliche Ausgang für mich. Weil einfach mehr nicht drin war.”

Linoschka nickte. “So lässt sich das ausdrücken. Aber das würde andere Leute als dich zum Beispiel in die irre führen, weil so ein Superlativ wie ‘bestmöglich’ irgendwie nicht als etwas ankommt, was sehr schlecht sein könnte.”

“Uffz, ja, das nervt. Leute.”, murrte Nurek. Als Linoschka nichts weiter dazu sagte, außer vorsichtig zu nicken, fragte sie: “Worum ging es dir eigentlich?”

“Ich war fünf Stunden darin. Ich habe vergessen, dass Zeit vergeht.”, erzählte Linoschka. “Ich konnte aussuchen, ob ich mit Personen gepaart werden möchte, die ungefähr meine Fähigkeiten haben, mehr, weniger oder andere. Manchmal macht es ja einfach Spaß, sehr herausgefordert zu werden und Potenzial zu sehen, manchmal ist genau das Gegenteil viel entspannender, etwa beim Training einer anderen Person viel neuen Input zu geben, aber für eins selbst sind es nur Routinen. Ich wurde vier Mal dabei einer Person zusortiert, bei der letzteres der Fall war. Ich hatte einfach alles zugelassen. Für Bjork, so heißt die Person, gehört Orkando sehr zum Leben. Er hat ganz viel dazu erzählt und das war so interessant. Ich habe mich dabei gefühlt, als würde ich über die Philosophie nicht nur lesen und sie schon durchaus auch verstehen, sondern in Bewegung und in einer individuellen Ausführung als Teil der Person sehen. Es ist für mich eine Unsicherheit verloren gegangen, ob ich das richtig machen würde, – was ohnehin eigentlich keine so gute Frage bei Orkando ist.”

Auch wenn sie von einer verlorenen Unsicherheit erzählte, empfand Nurek sie gerade eigentlich immer noch als besonders unsicher. Und das nicht aus demselben Grund wie vorhin. Sie blickte Linoschka von der Seite an und nickte vorsichtshalber um zu signalisieren, dass sie zuhörte.

Sie waren inzwischen im Wald angelangt. Der Wald hatte mehrere Wege. Wenn Nurek allein unterwegs war, bevorzugte sie die schmalen, bei denen der Wald immer noch wie ein Wald und nicht wie zwei getrennte Wälder wirkte, aber mit Linoschka wanderte sie einen breiteren Weg hinauf zur Burgruine. “Bist du nun wieder unsicher? Oder geht es um verschiedene Formen von Unsicherheit?”, fragte sie schließlich.

“Bjork hat mich gefragt, ob ich Training bei ihm haben möchte.”, antwortete Linoschka schlicht.

Für Nurek war das keine ausreichende Antwort. Es konnte immer noch sehr viele Gründe geben, warum Linoschka unsicher wäre. Sie könnte ablehnen wollen, aber nicht wissen wie. Sie könnte noch keine Meinung dazu haben, sondern noch viele Fragen im Vorfeld klären müssen. Die vielleicht ihr selbst noch nicht einmal ganz klar waren. “Minus minus verbose?”, fragte Nurek, eine Erweiterung für Kommandozeilenbefehle verwendend, bei dem die Ausgabe ausführlicher wäre, als ohne den Zusatz.

“Warum will er das?”, fragte Linoschka. “Müsste ich nicht langweilig sein? Und falls nicht, müsste ich nicht einfach genau so interessant sein, wie jede andere Person auf meinem Trainingsstand auch, und von uns gibt es halt tausende?”

Nurek lächelte. Sie hatte vielleicht bei Marim ein bisschen das gleiche Gefühl: Er hatte so um die fünfhundert Versuchspersonen schon gehabt, aber nicht die Kapazität, mit jeder einzelnen einen Privatkontakt anzufangen. “Zufall.”, sagte Nurek also. “Du hast zufällig etwas an dir, was er interessant findet.”

“Ja. Und mich macht sehr nervös, nicht zu wissen, was. Denn klarer als du jetzt konnte er sich dazu auch nicht ausdrücken.”, antwortete Linoschka. Dieses Mal frustriert. Und das war eine Emotion, die Linoschka selten hatte.

Nurek lächelte nicht mehr und nickte ernst. Sie überlegte, ob sie noch irgendwelche Ideen hatte, an das Wissen zu kommen. Aber außer zu fragen gab es eigentlich keine. “Mist.”, sagte sie also sachlich.

“Ich habe zugesagt.”, sagte Linoschka. “Abgesehen von diesem Unwissen hat es nämlich sehr gut getan. Psychisch vor allem.”

Nurek lächelte wieder. “Das klingt schön.”, sagte sie.

Sie kam sich gerade nicht so wie ein gutes Herzwesen vor. Sie gab kaum hilfreichen Input, bestätigte nur, indem sie Selbstverständlichkeiten sagte. Aber vielleicht reichte das auch. Sie musste nicht immer dazu da sein, Gedanken anderer aktiv zu sortieren.

Dann fiel ihr etwas ein. “Bjork heißt ein Ork, der am Spiel teilnimmt. Den Namen gibt es im Outernet nicht so viel und ich habe keine Ahnung, wie oft er so als Nickname gewählt wird.”

Das Spiel war ein sehr kreativer, intersubkultureller, sehr bekannter Wettkampf in vier Phasen. Zumindest sollte er intersubkulturell sein, aber tatsächlich war vor allem ein sportlicherer Teil der Hack-Community vertreten. In der ersten Phase fanden sich acht Spielgruppen, die daran teilnahmen, in der zweiten reduzierten sie sich auf vier, in der dritten auf zwei, sodass in der vierten dann eine gewann. Die erste Phase hatte was von einer Schnipseljagd, oder komplexerem Geo-Cashing, die zweite spielte in selbstgebastelten Virtualitäten, die dritte irgendwo in der Landschaft im Outernet fast komplett ohne Internet, und die vierte war eine Art Hybrid. Es war durchaus interessant, aber Nurek hatte irgendwo in sich eine Grundabneigung gegen alles mit zu großer Bekanntheit und zu großer Fanbase. Trotzdem bekam sie auf Social Media am Rande immer mal wieder etwas mit.

“Es ist der Bjork.”, sagte Linoschka. “Aber er nimmt nicht mehr teil. Er erwähnte, dass seine Spielgruppe letzten Monat in der dritten Phase rausgeflogen ist, und er nun wieder mehr Personen trainiert, weil er mehr Zeit hat.”

“So up-to-date bin ich wohl nicht.”, sagte Nurek. “Ich habe keine Ahnung, warum ich mich ausgerechnet an den Namen erinnere.”

“Er ist eine sehr angenehme Person.”, sagte Linoschka schlicht. “Ich habe tatsächlich von ihm vorher nichts mitbekommen, aber vielleicht mochtest du seinen Stil.”


Nurek sah Marim einen vollen weiteren Tag nicht, und vielleicht war das auch ganz gut. Sie spielte noch einmal Terrorium mit Linoschka und Ivaness. Sie aßen gemeinsam, dieses Mal drinnen, weil das Wetter wie erwartet Regen brachte, der gegen die große Fensterscheibe schüttete. Das erdete. Sie saßen noch lange zusammen, jeweils an ihren Faltrechnern. Hin und wieder kam ein kleines Gespräch zustande, aber ansonsten war es ruhig.


Sie trafen sich am folgenden Nachmittag. Als Linoschka und Nurek die Virtualität betraten, bestand sie aus einer großen, schwarzen Leinwand und vier Sesseln in einem leichten Bogen angeordnet in einigem Abstand dahinter. Vorn an der Leinwand stand ein Ork, der die Größe derselben einstellte. Es handelte sich wahrscheinlich um Marims Herzwesen.

“Moin!”, grüßte die Person. “Ich bin Anuka, Pronomen ‘er, sein, ihm, ihn’. Mögt ihr mir einmal sagen, ob die Leinwand richtige Größe, Distanz und Höhe hat?”

Nurek setzte sich auf einen der äußeren Plätze. Sie entschied sich dazu im Bruchteil eines Moments. Anuka hatte Marim sie einladen lassen und dabei an ein Date gedacht, da fand er es sicher leicht frustrierend, wenn Marim und sie nicht gemeinsam in der Mitte sitzen würden, und Nurek wollte ihm diesen Frust gönnen. Sie beobachtete seine Mimik, die in der Tat eine Art spielerisches Grinsen widerspiegelte, das hätte heißen können ‘So war das nicht gedacht.’, aber Nurek konnte eigentlich Gesichtsausdrücke fremder Personen nicht lesen. Es konnte auch heißen ‘Ich habe eine Frage gestellt, gedenkst du irgendwann zu antworten?’. Und das tat sie dann auch. Jedenfalls.

“Bisschen kleiner und etwas tiefer wäre gut für mich.”, sagte sie. “Ich bin Nurek, sie, ihr, ihr sie.”

“Torf, sie, ihr, ihr, sie, aber eigentlich auch nicht so wichtig.”, stellte Linoschka sich vor.

Nurek blickte sie überrascht an, aber sah dann rasch weg. Sie hatte einfach noch nie erlebt, dass sich Linoschka in einer Virtualität vorstellte.

Linoschka hatte ihren Blick aber wohl bemerkt. “Ein Nickname, den ich mir für Kontexte zugelegt habe, die ich nicht zwangsläufig mit meinem Outernet-Leben vermischen möchte.”, erklärte sie. “Nicht sehr einfallsreich. Ich war 14, als ich ihn mir ausgedacht habe. Aber er hat für mich auch persönliche Bedeutung.”

Nurek nickte. Sie nickte noch einmal, als Anuka die Leinwand so skaliert hatte, dass sie gut gucken können würde.

“Wenn du schon beim Skalieren bist, magst du die Sitzflächen größer machen? Ich schätze, mehrere von uns lieben es, die Beine zu verknoten.”, bat Linoschka.

Anuka lachte auf. “Damit hätte ich vielleicht rechnen müssen!”, rief er. “Klar!”

Es war eine gute Idee gewesen. Nurek stand kurz auf dazu, und als sie sich wieder setzte, konnte sie ihre Knie auf eine Seite sortieren und die Füße auf die andere, und alles insgesamt passte zwischen die Lehnen. Ausgestreckte Beine stressten einfach.

Linoschka sah sie mit einem kurzen Grinsen an und setzte sich dann ruhig neben sie. Anuka stand unschlüssig vor den übrigen zwei Sesseln und kratzte sich am Hinterkopf. Er hatte, wie viele Orks, nur in der Mitte des Schädels eine breite Linie Haare von der Stirn bis zum Hinterkopf. Er trug sie nur ein bis drei Zentimeter lang, und so schwarz, dass Nurek sich kurz fragte, ob sie gefärbt wären, bis ihr einfiel, dass die Frage in einer Virtualität ohnehin nicht so viel Sinn ergab. Er trug ein ebenso schwarzes kurzärmliges Hemd und einen schwarzen Spitzenrock mit einem auffällig verzierten Gürtel: Es waren Spikes darauf und edelsteinartige Gnubbel in den Trans-Pride-Farben rosa, hellblau und weiß.

Anuka stand so lange nachdenklich da, bis Marim endlich auftauchte.

“Es tut mir leid, es hatte sich plötzlich eine weitere Person für die Studie gemeldet und ich dachte, das passt vorher noch, wenigstens einen Termin auszumachen.”, sagte Marim. “Das hat gar nicht mal so gut geklappt.” Er blickte sich um und entdeckte Linoschka. “Marim Präsenz. Moment. Marim reicht. Er, sein, ihm, ihn.”

Linoschka wiederholte Nickname und Pronomina.

Marim blickte kurz Anuka an, dann, wie sie saßen, grinste Anuka breit an und setzte sich schließlich neben Linoschka, sodass Anuka außen saß.

Eine kurze, leicht seltsam-unbehagliche Stille trat ein, bis sie sich einigten, den Film zu starten. Und was für ein Film. Nurek fragte sich zunächst, ob die Szenen unchronologisch angeordnet waren – mit so etwas hatte sie oft Schwierigkeiten –, oder ob sie einfach quasi nicht zusammenhingen. Außerdem arbeitete er mit vielen Körperverformungs-Effekten, die vielen Personen ein seltsames Gefühl gaben, und für manche sogar Teil einer Phobie waren. Szenen, in denen plötzlich, ohne Vorwarnung die Stelle, an der der Arm angewachsen war, auf Beckenhöhe runterrutschte. Zehen, die in die Länge wuchsen, mit denen der Charakter sich schließlich einen Stift hinters Ohr steckte, ohne überhaupt den Fuß anzuheben. Die Szenen waren nur kurz, dann wirkten die Körper wieder realistisch und der Film spielte mit anderen Surrealitäten. Was zum Slik war das für ein Film?

Nurek mochte ihn trotzdem. Vielleicht auch nur, weil sie mit einer positiven Grundhaltung herangehen wollte. Aber sie mochte eben auch generell Surreales. Das Spiel gegen alle Stereotypen im Kopf. Sie verstörte der Film nicht wegen der Darstellungen, sondern weil er keine Handlung hatte.

Ihr gefiel der Film bis zur Kussszene. Sie war wieder eine mit Körperveränderung: Der Mund des Charakters wurde zu einem langen Rüssel, und er küsste sein eigenes Spiegelbild, das den Rüssel einfach in sich einsog. Er wirkte dabei labberig flüssig. Es sollte wohl auch irgendwie zärtlich sein. Dann war der Film vorbei.

“Och nö.”, meinte Nurek. “Kussszene zum Schluss. Wie Stereotyp. Dass selbst so ein Film nicht ohne auskommt.”

“Ach so.”, sagte Anuka, wirkte vielleicht gespielt überrascht. “Ich dachte schon, du wärest traurig, dass der Film bereits vorbei ist.”

“Ich hätte auch noch eine halbe Stunde mehr davon angesehen, wenn sie damit diese Szene ausgetauscht hätten.”, sagte Nurek.

“Oh, an sich mochtest du ihn?”, fragte Anuka, dieses Mal sehr sicher wirklich überrascht.

“Können wir uns in einen Kreis setzen?”, fragte Nurek, bevor sie antwortete. Sie unterhielten sich schließlich von den äußeren Plätzen aus miteinander.

“Ja. Vorsicht!”, warnte Anuka, als er mit einer Geste steuerte, dass sich die Sessel in einen Kreis schoben, ohne dass sie dafür aufstehen mussten. Da sie sich gegenseitig nicht berührten, war es möglich, dass diese Veränderung für jede Person von ihnen so wirkte, als würden sich nur die anderen bewegen und in Wirklichkeit bewegte sich niemand.

“Also, ich fand vieles gut. Ich mochte das Spiel mit meiner Erwartungshaltung sehr.”, sagte Nurek. Und betonte dann noch einmal: “Sehr!”, bevor sie fortfuhr. “Aber mit der Handlungslosigkeit bin ich nicht so gut zurechtgekommen.”

“Das ist eine Meta-Ebene!”, sagte Anuka. “Ich fand das richtig krass cool! Immer wieder Handlung andeuten, und dann kommt doch keine, sodass es frustriert. Bis du verstehst, dass das auch Teil des Spiels mit deiner Erwartungshaltung ist.”

“Oh!”, rief Nurek. Sie grübelte noch einmal darüber nach, und wiederholte auch dies: “Ooh! Ich mag das!”

“Nur den Kuss nicht, ja?”, fragte Anuka.

Nurek grinste und nickte. “Küssen kann weg.”, sagte sie. “Küssen und all das Körperflüssigkeits-Austauschen-Gedöns. Aber Leute sind da so scharf drauf, dass sie wenigstens Küssen überall einbringen müssen. Setze ich mich mit der Haltung hier irgendwo in die Nesseln?”

“Warum solltest du?”, fragte Marim.

“Mir wurde manchmal gesagt, ich verderbe Leuten die Laune an Filmen mit Erotik, romantischen Küssen und Sex, und sollte sie dann einfach nicht gucken.”, erklärte sie.

“Ich finde, deine Haltung sollte mindestens genau so viel Raum haben wie die der anderen.”, hielt Marim fest. “Und mich stört sie jedenfalls nicht.”

“Nervt dich das auch?”, fragte Nurek.

“Erotik und all dies?”, fragte Marim. Vielleicht sicherheitshalber.

Nurek nickte.

“Nein. Ich gucke tatsächlich gern Erotik-Filme.”, widersprach er betont. “Aber mir geht dabei echt nichts verloren, wenn du so etwas mies findest und darüber reden willst. Ganz im Gegenteil. Ich finde es – solange es dir dabei gut geht – bereichernd. Und selbst, wenn ich sie mag, kann ich auch gern beim Ranten mitmachen. Ich kann gleichzeitig Kussszenen mögen, aber ihre immer noch zu oft unhinterfragte Beliebtheit mies finden.”

“Oh ja, das kann er schon!”, bestätigte Anuka. “Ich auch. Es gibt so viele Filme, deren Handlung eine Sex-Szene beinhaltet, ohne die die Handlung genau so viel Sinn ergibt.”

“Wie in diesem Film mit der Kuss-Szene.”, murmelte Nurek.

“Und dann schneidet hinterher eine KI den Film so zurecht, dass sie nicht vorkommt, für das Publikum, das solche Szenen aus verschiedenen Gründen nicht sehen mag.”, fuhr Anuka fort, ohne auf den Einwand einzugehen. “Das Publikum, das eher die gekürzte Fassungen anguckt, ist echt nicht klein. Ich frage mich oft, ob es nicht mehr validieren würde, wenn es von vornherein zwei gleichwertige Versionen gäbe, mit und ohne entsprechende Inhalte. Sodass nicht das eine der Standard und das andere die angepasste Fassung für die anderen ist. Und auf solche Gedanken hat mich vor allem Marim gebracht.”

Marim lächelte.

“Darf ich was sagen?”, fragte Linoschka.

“Klar.”, sagte Anuka, und auch Marim und Nurek nickten.

Linoschka brauchte ein wenig, um sich zu sammeln und sah dabei auf den Boden. Nurek kannte das. Wenn Linoschka zuhörte, fiel es ihr schwer, gleichzeitig eigene Worte in ihrem Kopf zu bilden, um ihre Gedankenuniversen in Sprache zu übersetzen. Also musste es dazu ein paar Momente leise sein. Alle ließen ihr die Zeit. “Ich verstehe, dass du den Kuss nicht gut fandest.”, sagte sie schließlich. “Aber ich finde, er verändert doch die Handlung sehr. Die nicht so richtig vorhandene. Die Szene am Ende ist Symbol dafür, dass der Charakter sich selbst akzeptiert, mit dem Unwissen über das eigene Ich, was als nächstes mit jenem passiert.”

“Das ist auch eine coole Interpretation.”, stimmte Nurek zu. “Aber Küsse als das Symbol für Liebe ist halt auch problematisch.”

Linoschka nickte und blickte dabei auf den Boden. “Stimmt.”, sagte sie schließlich. Nachdenklich fügte sie hinzu: “Irgendwie ist es in deinen Nesseln auch ganz gemütlich.” Und zu solch mysteriösen Statements kam es bei Linoschka, wenn ihre Gedanken zu viele Sprünge in ihrem Kopf machen durften, bevor sie sie aussprach.

“Magst du etwas genauer beschreiben, wie du in den Sitznesseln gelandet bist?”, fragte Nurek.

“Oh, das ist vielleicht kompliziert.”, sagte Linoschka unsicher. “Du hattest vorhin gefragt, ob du dich in die Nesseln setzen würdest, wie sonst. Nun hatte ich das Gefühl, ich hätte mich damit in die Nesseln gesetzt, weil ich diese Kussnormativität für meinen Einwand noch nicht ganz dekonstruiert hatte. Und da dachte ich, deine Nesseln sind gemütlicher. Ergibt das nun Sinn?”

Nurek lachte und nickte. “In meinen Nesseln ist genug Platz für alle, die möchten.”, sagte sie.

“Oh, das ist ein schönes Bild.”, murmelte Marim und fügte dann wieder in durchschnittlicher Lautstärke hinzu: “Mindestens zwei, ich schätze drei von uns haben ja wahrscheinlich häufiger Probleme, Sprache so zu nutzen, dass sie generell verstanden wird. Aber uns gefällt es mit dieser Sprache und wir kommen gut damit zurecht. Das könnte im Bild bedeuten, dass wir Personen sind, die gar nicht merken, dass Nesseln normalerweise pieken würden, und es uns deshalb darin gemütlich machen können.”

“Ich finde den Gang der Diskussion hier ja sehr interessant.”, merkte Anuka an. “Von Küssen, die eklig sind und weg können, dahin, sich in Nesseln zu setzen, die eigentlich auch recht gemütlich sind.”


Sie diskutierten noch eine ganze Weile und gingen später mehr ins Detail. Irgendwann verabschiedete sich Linoschka, weil sie am späten Abend noch eine Verabredung mit sich selber hatte. Anuka ging bald darauf. Er nannte keinen Grund und für Nurek fühlte es sich so an, als wäre da ein nicht ausgesprochener, der etwas mit Marim und ihr zu tun hätte. Aber sie konnte sich nicht ausmalen, was für einer.

“Nicht sicher, ob er uns gern zu zweit haben möchte, um uns zu verkuppeln, oder ob er sich unwohl fühlt, weil wir zu viel ins Detail gehen.”, murmelte Marim. Ihm ging es wohl ähnlich.

Das Wort ‘verkuppeln’ hallte in Nureks Kopf mit einem unwohligen Gefühl nach. Nicht, dass sie Marim nicht genug gemocht hätte bis jetzt, um auszuprobieren, ob sie vielleicht eine romantische Beziehungsebene dazu entwickeln könnten. Der Gedanke verunsicherte sie noch mehr. Sie hatte ihn bisher noch nicht gehabt, obwohl es dafür Anlässe gegeben hätte. Er überraschte sie. Sie hätte irgendwie nicht damit gerechnet. Vielleicht eben, weil Marim so viele Versuchspersonen hatte, oder weil ihr Interesse an wissenschaftlichem und nerdigem Austausch einfach viel größer gewesen war – und immer noch war.

Sondern weil Nurek es verabscheute, wenn andere Leute versuchten, sich in ihre Entscheidungen einzumischen. Sie fragte sich, ob es dabei egal war, was für welche, oder ob sie Entscheidungen, die in irgendeiner Art mit Freundschaften oder Beziehungen zusammenhingen, besonders schlimm empfand.

“Darf ich dich fragen, was du denkst?”, fragte Marim.

“Ja.”, erlaubte Nurek, grinste und sagte nichts weiter.

Marim wartete einige Momente, lächelte dann auch und fragte: “Was denkst du?”

“Gerade sehr frisch, dass ich mag, dass ich diese Alberei mit dir machen kann.”, sagte sie. “Davor habe ich über Verkupplungsversuche nachgedacht, und dass ich sie nicht leiden kann. Und davor,” Nurek zögerte, bevor sie den Mut dazu und eine Formulierung fasste, es zu Ende auszusprechen, “dass ich nicht abgeneigt wäre, herauszufinden, ob eine romantische Beziehung zwischen uns taugt.”

Marim nickte. Er hatte ein sehr kleines Lächeln im Gesicht, noch von vorher, das nicht verschwand, und dann langsam breiter wurde. Er nahm außerdem die eigenen Knie in den Arm. Diese Strümpfe waren einfach wunderschön, fand Nurek. “Ich glaube, es wäre fair gewesen, dir gesagt zu haben, dass ich vermögt in dich bin. Das wollte ich heute.”, sagte er.

“Vermögt?”, fragte Nurek.

“Das leitet sich von mögen ab, wie verliebtsein von lieben.”, erklärte Marim. “Das Wort habe ich erfunden.”

“Oh!” Nurek merkte, dass ihre Hände vor Begeisterung flatterten, als hätte sie das gar nicht verursacht, sondern ihr Körper machte es von alleine. “Ein schönes Wort, aber mir ist das immer noch nicht ganz klar.”, sagte sie. “Ist vermögen dann eine Vorstufe von mögen?”

“Uffz, nein. Ich mag dich.”, widersprach Marim. “Dann eher eine Nachstufe. Es geht bei der Verformung des Wortes eher darum, dass so eine Art Hibbeligkeit hinzukommt, eine innere Freude und Begeisterung jedes Mal, wenn ich an dich denke, die mich einfach lächeln lässt.”

“Dann bin ich auch vermögt in dich.”, überlegte Nurek. Sie runzelte die Stirn und grübelte noch etwas. “Allerdings bin ich dann in sehr viele Leute vermögt.”

“Da spricht ja nichts gegen! Das kann total schön sein.”, sagte Marim.

Sie saßen wieder ein paar Momente still da. Nurek hatte das Bedürfnis, näher an Marim zu sitzen, aber nicht neben ihm. Sie saßen immer noch in diesem Sesselkreis und die beiden unbesetzten Sessel jeweils links und rechts von ihnen waren so groß, dass sich der Abstand fast nach Rufenmüssen anfühlte. Aber irgendwie wirkte Nureks Lieblingsvirtualität auch gerade nicht nach der richtigen Gemütlichkeit. Sie war nicht weich genug. Sie musste grinsen, als sie sich das moosig steinige Bauwerk als Hüpfburg oder Kissen vorstellte.

“Du denkst schon wieder heimlich.”, sagte Marim. “Was völlig in Ordnung ist, natürlich. Aber es macht in dem Kontext schon etwas neugierig.”

“Du hast doch so unsagbar viele schöne Virtualitäten.” Nurek versuchte ein verschmitztes Grinsen, hatte aber bei solchen Anforderungen keine Ahnung, wie gut das klappte. “Ist auch sowas wie ein Deckennest dabei?”

Marim holte eine Art Klappaquarium aus seiner Rocktasche. Als er es ausklappte und im Raum zwischen ihnen etwa auf Augenhöhe befestigte – es brauchte dazu keine Verbindung zum Boden oder so etwas –, schwammen tatsächlich Fische und Quallen darin. Aber mit einer Geste verschwand das Wasser und wurde durch eine riesige Welt ersetzt, die nur aus verschiedenen bunten Kissen bestand. Die Fische schwammen irritiert davon und die Quallen bewegten sich nach oben aus dem Ausschnitt, den das Aquarium darstellte. Niemand wusste, wohin. “Meinst du so etwas?”

Nurek runzelte die Stirn. Ja, so etwas meinte sie, aber sie hatte den spontanen Drang, etwas zu perfektionieren. “Ein bisschen dunkler, und etwas weniger bunt könnte sie sein.”, sagte sie. “Ich mag zwar bunt, aber es ist mir oft zu viel durcheinander. Und ich bin generell ein wenig lichtempfindlich. Ich mag eher Dunkelheit und verbinde sie mehr mit Ruhe.”

“Sind dir meine Strümpfe zu viel?”, fragte Marim plötzlich besorgt.

“Nein, die sind klasse. Die bleiben lokal an deinen Beinen und laufen nicht irgendwo unkontrolliert herum oder gestalten den ganzen Hintergrund.”, beruhigte Nurek. Nach kurzem Reflektieren, dass aus dem ersten Satz in diesem Zusammenhang vielleicht nur hervorgehen würde, dass die Strümpfe nicht störten, aber nicht, dass sie sie wirklich gut fand, versuchte sie ernsthafter hinzuzufügen: “Ich mag die Strümpfe wirklich sehr!” Aber sie schaffte es nicht, ihren albernen Unterton abzulegen. Der war da jetzt einfach. Sie kicherte darüber, dass ihre alberne Stimmung sich ihrer Kontrolle entzogen hatte. “Mir geht es gut!”, stellte sie fest.

“Das ist so schön!”, sagte Marim, die letzten zwei Wörter durch lange Vokale und ein Lächeln hervorhebend. Er öffnete das Menü für das Aquarium wieder für sie beide und überließ es Nurek, die Dunkelheit passend einzustellen und die Farben zu sortieren.

Anschließend wechselten sie die Virtualität. Das fühlte sich sehr erleichternd an. Sie konnten sich unabhängig von Sitzmöbeln den richtigen Abstand zueinander aussuchen. Es ergab sich irgendwie, dass sie sich einander zugewandt mit etwa einer drei Viertel Armlänge Distanz in die Kissen legten, statt sich wie so oft im Schneidersitz hinzusetzen.

Aber vor allem erleichterte es, weil dies kein geschlossener Raum mehr war. Er erstreckte sich einfach ins Unendliche, ein bewölkter Abendhimmel darüber und ein frischer, leichter Wind wehte durch die Virtualität. “Besser.”, sagte Nurek.

“Ich würde gern mit ein paar Fragen ein bisschen was abstecken.”, sagte Marim, als sie zur Ruhe gekommen waren. “Das wird weniger albern. Ist das gerade okay für dich?”

Nurek grinste automatisch albern. “Ja.”, sagte sie und kämpfte dagegen an. “Ich habe die Stimmung gerade nicht so ganz unter Kontrolle, aber ich kann trotzdem sachlich reden.”

“Das reicht mir.”, versicherte Marim. “Ich bin etwas unkoordiniert. Ich würde anfangen mit der Frage: Würdest du dich als sex-repulset bezeichnen? Oder magst du lieber keine Label? Oder was anderes?”

Nurek musste schnauben, weil ihr die Antwort so offensichtlich vorkam, aber trotzdem okay fand, dass Marim nachfragte. “Das Label trage ich. Ich bin asexuell.”, fügte sie hinzu.

“Muss ja nicht einhergehen.”, sagte Marim und lächelte. “Ich bin eine asexuelle Schlampe. Ich bin asexuell, aber nicht sex-repulset.”

“Das ist eine Kombination, in die ich noch nicht viel Einblick habe, muss ich zugeben.”, sagte Nurek. “Ich informiere mich. Gibt es akut etwas, was ich wissen sollte?”

“Eigentlich nicht, aber ich kann dir kurz beschreiben, was es bedeutet, wenn du magst.”, schlug Marim vor.

Nurek nickte. Sie fühlte dabei die Weiche des Kissens an ihrem unteren Ohr. “Gern.”

“Ich fühle keine sexuelle Anziehung zu Personen. Ich habe nie, wenn ich eine Person angucke, das Gefühl oder den Gedanken, mit dieser Person wäre Sexuelles etwas, wonach es mich irgendwie drängt, wonach ich mich sehne oder sowas.”, fasste Marim zusammen. “Ich mag aber sexuelle Interaktion an sich. Es hat für mich aber nichts mit Personen oder persönlicher Beziehung zu tun. Das macht es manchmal schwer, Personen dafür zu finden.”

“Mich nicht.”, sagte Nurek, fast als Reflex. “Also, ich bin keine Person dafür.”

“Ich weiß.”, sagte Marim. “Und das ist umgekehrt irgendwie entspannend. Mit dir möchte ich ja herausfinden, ob wir eine persönliche Beziehung entwickeln oder ausbauen möchten. Weil ich viel sexuell interagiere, waren manche Personen in der Vergangenheit verwirrt, wenn ich mit ihnen eine romantische oder eine Kuschelbeziehung anfangen mochte, dass für mich Sex kein Teil davon wäre. Ich wurde einmal sehr unter Druck gesetzt. Es ist entspannend, dass das zwischen uns nie aufkommen wird.” Marim wirkte plötzlich sehr nachdenklich und etwas verwirrt. “Es sei denn, dir macht es etwas aus, dass ich mit anderen Personen wahrscheinlich hin und wieder Sex haben werde. Eben nur für Sex.”

Nurek schüttelte den Kopf. “Solange du nicht das Bedürfnis hast, mir ausführlich davon zu erzählen, mach, was du willst.”, sagte sie. “Ich meine, ich werde auch über deine Studie viele private Details nicht erfahren. Das klingt spontan persönlicher.”

Marim nickte. “Das ist definitiv persönlicher. Alles im Zusammenhang der Studie.”, sagte er. “Zur Frage mit dem darüber reden zurückkommend: Ich kann gut Themen aussparen, aber du sagst immer so Sachen wie ‘ausführlich’ dazu, oder fängst selbst mit dem Thema an. Wo sind deine Grenzen?”

Nurek lächelte, weil sie keine spontane Antwort hatte, und das letzte Mal er es gewesen war, der auf eine Grenzen-Frage einige Zeit gebraucht hatte. “Darf ich vorher eine sehr persönliche Frage stellen?”

Marim nickte einfach. Dabei bewegte sich sein weiches Haar auf seiner Schulter. Es sah aus, als müsste es sich schön anfühlen.

“Ich sollte keine Detailfragen über das Bedrängen stellen, das dir widerfahren ist. Aber du hattest schon einmal angedeutet, als es darum ging, dass ich dir zu begeistert war, dass so etwas in der Richtung vorgefallen ist.”, leitete Nurek ein. “Ging es dabei um die gleiche Situation?”

“Ja.”, sagte Marim. “Und du darfst fragen. Es ist eine beschissene Situation gewesen, und sie hat Nachwirkungen bis heute, aber ich bin trotzdem jederzeit dazu bereit, darüber zu reden. Zumindest mit Leuten, die mich dafür nicht abwerten.”

Nurek nickte. “Ich frage vielleicht irgendwann. Und du darfst jederzeit davon erzählen. In dem Zusammenhang sogar, wenn es um sexuelle Dinge geht.”, versicherte sie. “Gerade wollte ich nur einordnen können, ob es zusammenhängt, und habe kein Bedürfnis, von mir aus nach mehr zu fragen.”

Marim nickte. Er wirkte ernst, fand sie. Und Nurek war froh, dass sie nicht gerade jetzt eine neue Welle Albernheit überrollte.

“Ich habe übrigens ein Geheimnis, das ich nicht so oft teile.”, sagte sie. Vielleicht um abzulenken, damit die Albernheit auch nicht kam, weil sie gerade an sie dachte. “Ich mag Kussszenen in Filmen in Wirklichkeit eigentlich teilweise gern angucken. Sie sind oft emotional intensiv. Ich finde sie als Symbol für Beziehungen unangenehm. Und so in Echt mit Personen finde ich das eklig. Aber je nach Mindset, mit dem ich einen Film angucke, mag ich die Szenen an sich schon. Ist das seltsam?”

Marim grinste und schüttelte den Kopf. “Romantik, die ich empathisch aus Beschreibungen in Büchern und Filmen und so nachempfinde, funktioniert ganz anders, als reale. Das ist so seltsam. Also”, Marim unterbrach sich und runzelte die Stirn. “Ich hätte nicken sollen. Es ist seltsam. Aber ich glaube, das haben viele. Also, es ist als Phänomen seltsam und nicht du bist mit dem Empfinden seltsam. Ich zumindest habe diese Diskrepanz stark. Schon wieder so ein Fremdwort. Diese Distanz, das nicht zusammenpassen von Romantik in Geschichten als Mitempfinden bei fiktiven Charakteren und Romantik zwischen mir und einer realen Person.”

“Ich war irgendwie ziemlich überrascht.”, sagte Nurek. “Ich habe ja vor meinen ersten Kussversuchen Küsse in Büchern oder Filmen gelesen beziehungsweise gesehen. Und geschlossen, dass mir das gefallen müsste, auch wenn ich mir wirklich nicht vorstellen konnte, dabei Flüssigkeit auszutauschen. Also habe ich ziemlich trocken geküsst. Mein Kommentar beim ersten Kuss war so ein skeptisches ‘interessant’.” Sie musste bei der Erinnerung wieder grinsen, obwohl sie gar nicht so angenehm war.

“Wie ist es angekommen?”, fragte Marim.

“Oh, keine Sorge.”, sagte Nurek. “Wir hatten ja vorher schon wegen der Nässe gesprochen und die Person hatte sich darauf eingestellt, dass das vielleicht nichts wird. Eher als ich. Wir waren noch eine Weile befreundet, haben uns aber dann aus den Augen verloren.”

“Das klingt nicht sehr toll, aber auch nicht so schlimm.”, sagte Marim.

Nurek nickte und lächelte. Es fühlte sich schön an, dass Marim andere Erfahrungen hatte als sie, aber das nicht dazwischen kam, als er sich in sie und ihre Situation hineinversetzte.

“Die Frage mit der Grenze steht noch aus.”, erinnerte Marim.

“Ich möchte aber mit noch einer Frage ablenken.”, sagte Nurek. Die Albernheit kehrte zurück.

Marim grinste und lud sie ein: “Bring es an!” Er sah schön aus dabei, fand sie.

“Genauso, wie ich nicht genau weiß, was ein Date ist, weiß ich nicht genau, wo eine romantische Beziehung anfängt.”, sagte Nurek. “Beziehungsweise, ich finde das gerade hier romantisch.”

Marim nickte. “Einverstanden.”, sagte er.

Dieses Mal grinste Nurek wieder. “Zurück zu den ernsten Betriebsabsprachen und so:”, sagte sie. “Wir sollen also verkuppelt werden. Eventuell. Und ich frage mich, was rebellischer wäre: Wenn wir nun schon sagen, wir sind in einer romantischen Beziehung, oder erst später. Gar nicht wäre wahrscheinlich am rebellischsten. Aber das ist ja nicht unbedingt, was wir wollen.”

Marim nickte. “Wichtiges Kriterium dafür, eine Beziehung einzugehen: Wie rebellisch ist es?”, hielt er fest.

“Ist das schlimm?”, fragte Nurek.

Marim schüttelte den Kopf. “Ich bin dafür zu haben. Ich mag das auch nicht so von Anuka. Wenn es das ist. Ich werde da noch Klarheit mit ihm schaffen.”

“Und?”, fragte Nurek. “Was wäre rebellischer?”

Marim blickte sie eine Weile nachdenklich an, ohne zu antworten. Das Bild wirkte gleichzeitig so vertraut und noch so neu. Und Nurek fühlte sich wärmer, nicht auf einer Temparaturskala sondern emotional, als sie seinen Körper und sein Gesicht betrachtete. Er war weich und ruhig, entspannt vielleicht.

“Beides ist nicht so richtig befriedigend.”, sagte er schließlich. “Sowas wie ‘Wir hatten doch schon längst eine romantische Beziehung’ wäre eine Option. Dabei wissen wir das erst jetzt, weil wir unser Verhältnis vorher noch nicht interpretiert haben. Aber vielleicht ist Tee und Minze im Übermaß bereits romantisch.”

“Auf eine andere Weise ist es das.”, sagte Nurek.

“Auf eine andere Weise, ja.”, bestätigte Marim.

“Ich würde mich damit nicht ehrlich fühlen.”, überlegte Nurek.

“In Ordnung.”, versicherte Marim. “Aber wenn wir sagen, wir haben jetzt eine, dann fühlst du dich damit wohl?”

Nurek merkte, wie irgendetwas sehr viel Aufmerksamkeit forderndes durch ihren Körper floss, Hormone oder so etwas. Sie nickte. Sie schloss die Augen und atmete, um dieses Gedöns in ihrem Körper ein wenig zu beruhigen. Zumindest soweit, dass sie wieder sprechen konnte. “Du hattest auch Kuschelbeziehung mit angesprochen. Ist das für dich die gleiche Ebene oder was anderes?”

“Etwas anderes, aber die Ebenen haben für mich eine ähnliche Relevanz.”, sagte Marim. “Ich kann romantische Beziehungen ohne Kuscheln führen, und Kuschelbeziehungen ohne Romantik, und mir fehlt dabei jeweils nichts. Aber ich mag auch beides zusammenführen, und ich habe die Ebenen ähnlich gern.”

Seine Augen bewegten sich anders als sonst, stellte Nurek fest. Sie bewegten sich rasch zu verschiedenen Punkten. Nurek wusste nicht genau welche. Sie fühlte sich etwas nervös, aber auch gut dabei. Als wäre sie wichtig.

“Was möchtest du?”, fragte Marim.

“Ich frage, weil ich gerade Lust hätte, kuscheln auszuprobieren.”, sagte sie.

Marim lächelte und nickte. “Ich mag auch.”

Sie lagen eine Weile still da, und steckten sich dann beide gegenseitig mit grinsen an. Dann traute sich Nurek ein kleines Stückchen näher zu rücken. Marim tat das selbe.

Nurek hatte lange nicht mehr mit einer noch nicht vertrauten Person gekuschelt. Marim war mindestens ebenso unsicher. Es gab dieses klassische Problem, dass die Gesichter sich nicht zu dicht sein durften. In der Virtualität wäre wenigstens Atem kein Problem gewesen, aber sie deaktivierten die Atemhaptik nicht. Also musste zwangsläufig ein Kopf unter dem anderen liegen, oder eine Person mit dem Rücken zur anderen oder sowas.

Als sie abwechselnd, tonlos kichernd, dicht genug aneinandergerückt waren, traute sich Nurek, Marims Wange anzufassen. So zarte Haut. Sie strich ihm von dort über den Hals und Marim schloss dabei die Augen.

“Kuscheln mit aufgeregten Romantik-Gefühlen, oder eher entspannt, gelassen?”, fragte er.

Nurek fand, dass er schon recht aufgeregt klang. “Kannst du es unterdrücken? Theoretisch?” Und, weil sie das Missverständnispotenzial erkannte, fügte sie kurz darauf hinzu: “Das ist noch keine Entscheidung meinerseits.”

“Ich kann es ganz ausstellen.”, sagte Marim. “Ich funktioniere da als Spiegel und auf Basis von Konsens. Wenn dich das Verliebtheits-Gefühl beim Kuscheln stört, dann fühlt es sich nicht mehr existenzberechtigt und löst sich innerhalb von Millistunden komplett auf.”

“Also doch schon Verliebtheit?”, filterte Nurek daraus und grinste sehr breit.

“Irgendwie wohl schon.”, gab Marim zu.

Nurek umarmte seinen Kopf, sodass er unter ihrem Kinn auf ihrer Brust landete – vorsichtig, sodass sie merkte, wie er der Bewegung freiwillig folgte. “Du darfst das gern fühlen. Ich hatte das vorhin auch schon.” Sie spürte wie sich sein Körper entspannte. Oder anders anspannte. Er legte den oberen Arm um ihren Bauch und begann sanft, ihren Rücken zu streicheln. Nurek strich durch sein langes weiches Haar und genoss die feine Haptik viel mehr, als sie das Minzblatt je hätte wertschätzen können.