Ein ganz großer Wurf

Sie lagen still nebeneinander, eine Armlänge Abstand, auf der wölbigen Matratze, die Körperfronten einander zugewandt. May ließ Elena eine ganze Menge Zeit, um anzukommen. Aber irgendwann wurde das Schweigen doch unangenehm. “Möchtest du etwas üben?”, fragte sey.

Elena ließ so viel Zeit verstreichen, bis auch diese Stille begann, unangenehm zu werden, aber reagierte dann doch. Nicht mit einer Antwort auf die Frage allerdings. “Manchmal, wenn ich erzählt habe, was passiert ist, habe ich ausversehen etwas hinzugedichtet”, sagte sie in einem Klangfall, wie wenn sie es für ein emotionales Hörbuch eingesprochen hätte. Schwer und sanft zugleich.

Die Stimmlage passte nicht so gut zum Inhalt, dachte May, und ärgerte sich dafür sofort über sich selbst.

“Weil, wenn ich davon erzählt hatte, Leute mich zu beruhigen versucht haben, indem sie sagten, vielleicht wäre es in dem Gedränge tatsächlich ausversehen gewesen. Oder sie haben mich gefragt, ob ich implizieren wollte, dass der Alarm absichtlich losgegangen wäre”, fuhr sie fort.

“Welch ein Kackmist”, fluchte May. “Darum geht es doch gar nicht. Also, das mit dem Feueralarm. Selbst wenn! Die Frage lenkt völlig vom Problem ab.”

“Dass eine Gruppe einfach so geschlossen so wütend ist, habe ich noch nicht erlebt. Das ist erstmal was anderes”, sagte Elena.

“Und was die Frage angeht, ob es ausversehen war: Sehr wahrscheinlich nicht. Ich kann mir vorstellen, dass du dir die Frage selbst stellst und das die Sache nicht einfacher macht, sich davon zu distanzieren?”, mutmaßte May.

“Ja schon”, gab Elena zu, eine Spur zögerlich. “Was macht dich so sicher, dass es Absicht war?”

“Im Gedränge sind Hände meistens eher da, wo sie Halt finden. Und wenn sie ausversehen Brüste anfassen, merken sie es meistens. Und wenn sie zu Menschen mit Respekt gehören, schämen die sich hinterher in Grund und Boden. Dann sagen sie entweder was oder trauen sich nicht, aber machen dann nicht weiter mit sexistischem Bullshit”, entrüstete sich May.

Elenas Körper zitterte einen Moment. Oder vielleicht verkrampfte er sich sogar. Es war durch die Matratze spürbar. “Hmm”, machte sie nachdenklich. Und weinend, wie die Stimme verriet. “Tut mir leid”, fügte sie hinzu.

“Was tut dir denn jetzt leid?”, fragte May, eine Wut hinunterwürgend, die sey hatte, weil Leute sich ständig entschuldigten, wenn sie weinten, weil es immer noch nicht sozial akzeptiert war, das einfach zu tun, wenn es dran war.

Elena atmete langsam aus. Leise, aber nicht leise genug, dass May es nicht wahrgenommen hätte. “Dass ich das nicht einfach annehmen kann”, murmelte sie. Die Stimme war nun wieder tränenfrei. “Dass ich mir trotzdem einfach nicht sicher bin.”

“Es ist okay”, sagte May sanft. Auf einmal hatte sey das Bedürfnis, körperlich zu supporten. Aber Elena hatte erklärt, dass sie, wenn sie weinen müsste oder nicht mehr so richtig reagierte, eher Abstand von anderen Menschen haben wollte. Dass May sie dann aus dem Workshopzelt hätte führen und in dieses bringen sollen. Also ließ sey es, obwohl sey nicht sicher war, ob der Abstandswunsch sich auf Gruppen oder auch auf Körperkontakt an sich bezog. “Du musst dir nicht sicher sein dafür, dass das scheiße ist. Die ganze Art von diesem Typen und dem Hackspace, das dir keinen Raum gegeben hat, überhaupt über die Sache reden zu können, ist hostiles Umfeld mit Nachwirkungen genug. Du musst auch einfach gar nichts davon abkönnen. Es darf dir niemand sagen, du wärest zu empfindlich.”

Eine Windböe rüttelte sacht am Zelt. May hatte die plötzliche Hoffnung auf Regen. Obwohl Regen auch dazu führen würde, dass sie sich im Zelt vielleicht gegenseitig kaum mehr verstehen würden.

“Als hättest du gewusst, was mir gesagt wurde. Aber wahrscheinlich kennst du es”, sagte Elena.

“Ja”, bestätigte May schlicht. Und dachte dabei an Chris. Und an viele Unterhaltungen mit anderen über Chris im Nachhinein.

“Es ist schon was ganz anderes, auf so viel Verständnis und Mitwut zu treffen”, wiederholte Elena. “Ich glaube, ich will gerade noch nicht spielen, sondern mich erst einmal in das Gefühl hineinfühlen, dass ich wütend sein darf.” Sie klang überhaupt nicht wütend.

May atmete einen Moment schneller. Schon wieder hatte sey den Drang, Elena anzufassen. Im Gesicht. Und sie zu küssen. Was sollte das? Zum einen war doch ein ganz anderes Thema dran. Sey sollte nicht mitten in einem Gespräch über solch ernste Themen mit Körperkontaktfantasien anfangen. Zum anderen wollte sey es denn? Die Interaktion auf dieses Level bringen? Eigentlich war die Antwort klar. Sey wollte. Aber sie kannten sich erst so kurz. Es war nicht sere Art, Beziehungen anzufangen, wenn sey noch nicht ungefähr absehen konnte, wie es verlaufen würde. So richtig absehbar war es zwar nie, aber in diesem Fall fühlte sey doch noch sehr viel Unsicherheit. Und dann stellte sey sich wieder vor, Elenas Wange zu berühren und verdrängte sere Vorsicht.

Nichts passierte. Sey fasste Elena nicht an. Natürlich nicht. Und Elena sagte nichts mehr. Wahrscheinlich dachte sie nach und wahrscheinlich über etwas ganz anderes. Wahrscheinlich darüber, dass sie wütend sein durfte. “Was denkst du?”, murmelte May, sehr leise, fast mehr an sich selbst gerichtet, und eher als Satz als als Frage formuliert.

Elena antwortete nicht direkt. Es war so still und ruhig, abgesehen vom gelegentliche Schütteln, das durch das Zelttuch flatterte, dass May ihren Atem über die Distanz zwischen ihnen auf serem Gesicht fühlen konnte. Und riechen. Orange, dachte May. Es war wohl nicht Synästhesie, mehr eine Assoziation, aber eine, die May nicht erklären konnte. May mochte den Aten auf der Haut.

“Ich frage mich, was es bedeutet, dass du schneller atmest”, sagte Elena leise. Es war nicht ganz leicht, herauszuhören, ob sie nun dabei lächelte oder nicht, aber es war eine andere Stimmung als vorhin.

May wurde plötzlich sehr heiß. Nicht nur, weil sey romantische Gefühle hatte, sondern auch vor Scham, oder wenigstens, weil sey erwischt worden war. Sey schluckte. “Dass ich darüber nachdenke, deinen Schattengefühlen nachzugeben. Aber das ist vielleicht jetzt nicht dran”, gab sey zu. “Wir können gern beim Thema bleiben.”

“Ich wäre offen für diesen Themensprung.” Dieses Mal war es eindeutig. Elena lächelte, ein bisschen.

Durch May schoss eine zweite Welle von Hitze. Beinahe zu stark. Dieses Mal nicht aus Scham. Höchstens ein Echo davon war noch darin.

“Willst du?”, fragte Elena.

May lächelte. Es war eher ser Körper, der als Reaktion lächelte, statt einer bewussten Entscheidung. Einen Moment fühlte sey sich schwerelos. Dann wurde sem die Matratze unter serem Körper wieder sehr bewusst. Sie war angenehm angewärmt und weich. “Ja. Schon.” Sey schloss die Augen. Vielleicht klang das zu zögerlich.

Vielleicht würde Elena ‘Aber?’ fragen. Aber das tat sie nicht.

“Ich bin ein bisschen nervös.”, gab sie stattdessen zu.

“Frag mich mal”, erwiderte May. Sey musste unwillkürlich ein weiteres Mal grinsen. Sey öffnete die Augen wieder und streckte die Hand im angenehmen Halbdunkel vorsichtig nach Elenas Wange aus.

Sey hatte gerade die Haut mit den Fingern erreicht, spürte sie nur ein klein wenig unter den Fingerspitzen, als Elena ser Handgelenk griff. Sehr sanft. Elenas Finger waren warm auf serer Haut und führten die Hand locker zwischen ihre Körper. “Ich muss vorher ein paar Dinge besprechen”, sagte sie.

“Ist vielleicht besser”, stimmte May zu. “Weißt du konkret was?”

“Ja”, sagte Elena mit einem warmen Schmunzeln in der Stimme. “Ich habe für so etwas eine Liste.”

“Wie lang ist sie?”, fragte May, fast kichernd. “Wird es ein richtiger Vertrag?”

“Schlimmer, eine AGB”, antwortete Elena, gespielte Bösartigkeit dem Schmunzelklang beifügend. “Ich bin nicht sicher, wegen der Länge. Das ist, wie bei unserem Spaziergang, von deinen Antworten abhängig.”

“Dann fang mal an!”, forderte May sie auf.

Die Stimmung war anders als vor dem flüssigen Reden. Davor war sie sehr aufregend gewesen, eine Romantik, die May selten so intensiv erlebt hatte. Sey fragte sich, ob das angekündigte Reden dafür sorgen würde, dass diese Stimmung nicht wiederkommen würde. Aber zu reden war auch schön. Unglaublich schön, während Elenas Finger sacht um ser Handgelenk zwischen ihnen geschlossen waren.

“Ich mag nicht küssen. Nicht auf den Mund. Woandershin ist okay”, sagte Elena.

Oh, dachte May. Es war wirklich wichtig, das jetzt zu wissen. Das hätte sey nämlich sonst gemacht. Allein der Hätte-Gedanke ließ sem wieder warm werden. Aber das war dann wohl nicht. “Du magst es jetzt nicht, oder ist das so etwas wie, dass du es bei etwas One-Night-Stand-Artigen nicht magst, aber wenn es was Ernsteres würde, schon?”, erkundigte May sich. Sey bemühte sich, dabei nicht drängend zu wirken, nur sachlich neugierig.

“Oh, ich hatte mich eigentlich darauf eingestellt, dass es was Ernsteres würde”, meinte Elena. “Gut, dass wir reden.” Sie lachte fast. “Ich mag Küsse auf den Mund allgemein nicht. Ich habe nie verstanden, warum Leute das mögen. Weder bei längerfristigen Beziehungen, noch bei One-Night-Stands. Allerdings hatte ich dich so verstanden, dass du nicht so der Typ für One-Night-Stands wärest. Es wäre auch okay für mich, aber würde mich gerade überraschen.”

“Ich…” May zögerte, war plötzlich wieder sehr verlegen. “Ich bin mir normalerweise sicherer, wenn ich so etwas zusage. Früher hätte ich mich an dieser Stelle niemals schon auf etwas eingelassen. Ich habe nur diesen Drang, dir nah zu sein, und dachte, ich gebe dem zur Abwechslung nach. Abenteuerlich. Ist das okay?”

“Machst du das, weil du denkst, mit einer Schlampe könne man das schon machen? Ich müsste ja sexuell offen genug sein in dieser Hinsicht?”, fragte Elena. Ihre Stimme hatte einen belustigten, aber auch provokativen Beiklang, wenn May richtig analysierte. Und es verunsicherte sem total. “Tut mir leid, das ist keine nette Frage”, fügte Elena rasch in völlig anderem Tonfall hinzu. Aber sie zog sie nicht zurück.

“Ich will dir trotzdem ehrlich antworten. Das fühlt sich sonst falsch an. Weil du eben schon ein Stück weit recht hast”, gab May zu.

“Oh, wow”, sagte Elena. Überraschenderweise klang es eher nachdenklich als böse. “Ich hätte keinesfalls diesen Tonfall einschlagen sollen. Ich finde es völlig in Ordnung, dass es für dich etwas verändert. Die Frage ist vor allem, was es verändert, und wie. Magst du darauf eingehen? Und wahrscheinlich macht es der Druck, dass davon abhängt, wie ich mich fühle, nicht besser.”

“Es ist okay”, beruhigte May. “Du willst wissen, woran du bist. Du willst, dass ich weiß, woran ich bin. Das ist okay.” Sey wartete eine Windböe ab, die das Zelt sachte herunterdrückte und dabei mittelleise vor sich hinlärmte. Sey hatte schon wieder das Bedürfnis, Elena anzufassen. Es war total romantisch. “Vielleicht hinterfrage ich, ob die Regeln, die ich für einen Beziehungsaufbau habe, wirklich sinnvoll sind, wo mein Drang danach, dich anzufassen, so groß ist. Ich meine, es geht nicht nur um den Drang, sondern vor allem, ob du es willst. Aber vielleicht sollten diese zwei Aspekte einfach dafür reichen, es auch zu tun”, erklärte sey. Dann atmete sey einmal ein und aus, etwas Resignation in sich aufkommen spürend. “Es spielt auch eine Rolle, dass du eine Person bist, bei der es nicht so riskant wirkt, dieses Abenteuer auszuprobieren. Aber ich verstehe, wenn das gar nicht deine Art Abenteuer ist. So ein bisschen klang das aber aus den Schattengefühlen für mich heraus.”

“Ist es”, sagte Elena sehr leise und sanft.

In May kribbelte alles, als fröre sey, aber tatsächlich war sem warm dabei. Ser Zwerchfell zitterte kurz. Dann musste sey fürchterlich grinsen. “Ich schätze, ich bin ziemlich verliebt. Geht es weiter in der AGB? Mache ich Druck?”

“Nein, machst du nicht. Meine Wange kribbelt auch immer noch”, sagte Elena lächelnd. An serer Hand bewegte sich ein Finger und berührte Mays Handgelenk an einer anderen Stelle als vorher. Sey atmete rasch und überrascht ein – und musste schon wieder grinsen. “Ich überlegte gerade kurz. Es gibt nur noch einen wichtigen Punkt auf der Liste, der fehlt, und du kennst ihn im Prinzip schon so halb. Auch beim Anfassen kann es passieren, dass mich etwas in den Zustand bringt, in dem ich irgendwie blockiere und sozusagen rausgeführt werden müsste, wie in dem Workshop. Also, es geht nicht darum, dass du mich aus dem Zelt führen sollst. Aber wenn du merkst, dass ich blockiere und mich versteife, dann bitte aufhören, mich anzufassen.”

May schloss die Augen und malte sich rasch verschiedene Situationen aus, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob sey es merken würde. “Gilt da die gleiche Regel, dass ich, wenn ich unsicher bin, nachfragen kann?”, fragte sey.

Elena bestätigte mit einem Nicken und einem zustimmenden Laut. “Muss von deiner Seite eigentlich was geklärt werden?”

May überlegte einen Moment. “Nicht unbedingt. Irgendwie ist das noch nie so gelaufen bei mir. Deshalb vielleicht: Ich fange nur Beziehungen an, wenn sie mich in keiner Weise einschränken darin, andere anzufangen. Und ich habe eine Friends with Benefits Beziehung. Stellt das für dich ein Problem dar?”

“Nein. Ich freue mich eher, wenn es für dich gut ist”, widersprach Elena.

“Ist es!”, bestätigte May. Ein warmes Gefühl durchströmte sem bei dem Gedanken an sere Freundin, ein ganz anderes, vertrauteres, als das aufregende Verliebtheitsgefühl gerade. Leider war es eine Fernbeziehung und sie sahen sich nur etwa alle zwei Monate. Aber es war trotzdem schön.

Elenas Finger lösten sich von Mays Handgelenk. Sehr langsam, sanft und vorsichtig. Und das Gefühl von vorhin war sofort wieder da. Es wurde nur einen Moment durch Mays Belustigung verdrängt, wie rasch der Gefühlswechsel passierte. Dann lächelte sey nicht mehr. Ser Gesicht entspannte sich und sey schloss die Augen, als Elena mit sanften Fingerspitzen vorsichtig auf serem nackten Unterarm entlangstreichelte. Sey war sich sehr bewusst darüber, dass Elena Feedback erhielt, was es mit sem machte. Der Atem floss nicht mehr still und fast heimlich, sondern etwas schneller, ein bisschen lauter.

Der Drang war so groß, Elena einfach fest an sich zu ziehen, zu küssen – nicht auf den Mund natürlich – und überall anzufassen. Ihr vorsichtig ein Knie zwischen die Beine zu schieben und zu beobachten, was es mit ihr tat. Und dann eine Hand, während die andere über den Rücken strich oder sich über den Nacken in ihre kurzen Haare fädelte.

May tat nichts von alledem. Noch nicht. Sey mochte die Spannung. Sich ruhig gegenüberzuliegen, eigentlich überhaupt nicht ruhig, und die Langsamkeit auszukosten, den Berührungsdrang wachsen zu lassen, bis er fast schmerzhaft wurde. Elenas Hand strich auf serem Unterarm immer noch sacht hin und her, und als sie das nächste Mal auf Mays Handrücken ankam, drehte sey die eigene Hand und führte Elenas sacht zu seren Lippen. Langsam. Zunächst den eigenen Atem von der Hand ins Gesicht reflektiert bekommend, bevor sey sehr langsam einen zarten Kuss auf den Handrücken setzte. Der Ton, der sich in Elenas Atem schlich, klang wunderschön in Mays Ohren, löste fast die gleichen Gefühle in serem Nacken aus, wie einzeln klingende Klaviersaiten. Etwas drehte sich dabei. Nun war sey in der Rolle, die über Elenas Arm strich, während sey einen weiteren, vorsichtigen Kuss auf den Handrücken strich, den sey nun sachte in die andere Hand genommen hatte. Elena atmete einen Moment sehr hastig. Und May sah zu, dass es nicht bei einem Moment blieb. Sey erforschte vorsichtig, was Elena gefiel, worauf sie wie reagierte. Jeden Moment auskostend, langsam. Und als sey mit den Fingerspitzen die Haut nur kaum berührend wieder die Wange erreichte, fiepte Elena. Es klang schön, fand May, allerdings erschreckte es sem auch, weil sey es nicht direkt einordnen konnte. Also hielt sey einen Moment inne. Elena fasste erneut sere Hand, aber führte sie dieses Mal ebenfalls zu ihrem Mund. “Du bist unglaublich gut”, flüsterte sie, nur fast tonlos. Und küsste die Hand.


Sie lagen sich dicht in den Armen, in Löffelhaltung. May hatte die Arme unter Elenas hindurchgefädelt und umschlang Elenas weichen Körper knapp unterhalb ihrer Brüste. Elena umarmte sich selbst und dadurch auch Mays Arme. Im Gegensatz zu May waren Elenas Beine rasiert, das hatte sey beim Streicheln festgestellt. Elena roch, wie viele Menschen rochen, wenn sie erregt gewesen waren, mit einer eigenen, ganz individuellen Note darin, und ein bisschen nach Schweiß. Gelb, assoziierte May. Und eigentlich war gelb gar nicht so sere Farbe, aber gerade wollte sey keine andere.

Sie hatten sich so aneinandergekuschelt in diesen frühen Morgenstunden, etwa bei Sonnenaufgang, weil sie viel zu wach zum Schlafen waren, und weil es nach dem Regen doch kühl war. Und weil es einfach schön war. Dachte May zumindest, bis sey feststellte, dass Elena weinte. Am Zittern des Körpers und dem Klang des Atems, wenn die Atemwege zuschwollen. Elena schluchzte nicht oder so etwas.

“Soll ich loslassen?”, fragte May.

“Nein”, flüsterte Elena. Sie schlang die Arme noch etwas fester um Mays, einen Moment. “Ich glaube, ich wusste vor heute Nacht eigentlich gar nicht, was Konsens ist”, sagte sie leise.

“Du?”, fragte May irritiert und verwirrt. “Diejenige, die einen mega romantischen Moment unterbrochen hat, um über Konsens zu reden?”

Elena strich über Mays Unterarme. Sanft, aber schaffte es trotzdem dabei, Mays Wunsch, sie überall zu streicheln, nicht sofort wieder zu wecken. “Ja, absprechen mit Worten ist das eine”, erklärte Elena. Inzwischen weinte sie nicht mehr. Die Schwellung in den Atemwegen ließ auch wieder nach. “Wenn ich mit Leuten gekuschelt habe, haben sie mich gern in ihren Arm gezogen. Was ja meistens schön ist, aber manchmal zu eng. Vor allem, wenn das Gesicht vergraben wird.”

“Ja, das habe ich auch gemerkt”, sagte May. “Warum hast du nicht vorher gesagt, dass du es nicht magst?”

“Weil ich es nicht wusste”, sagte Elena. Einen Moment war wieder die Verklemmung in ihrer Stimme, die mit dem Weinen zusammenhing. “Ich wusste es nicht”, wiederholte sie. “Wenn mir etwas unangenehm war, habe ich es bisher nicht unbedingt bewusst realisiert, aber mich immer vorsichtig weggedreht. Und irgendwie haben das bisher Personen als Signal gesehen, mich enger an sich zu ziehen. Du nicht. Dadurch ist mir erst bewusst geworden, dass ich das mache.”

May küsste sie sacht knapp hinter das Ohr. Nicht direkt auf das Ohr. Letzteres, hatte sey gelernt, löste bei Elena immer sehr rasches Atmen aus, und das war gerade nicht dran. “Ja, das kenne ich. Das hat Chris zum Beispiel auch gemacht”, gab sey zu. “Aber darüber konnte man mit ihm reden. Immerhin darüber. Er war zwar sauer, wenn ich es nicht gleich gesagt habe, aber wenn ich richtige Momente abgewartet habe, konnte ich es gut in passende Worte kleiden, die er hören mochte. Es durfte kein Vorwurf sein. Sonst hätte er sich scheiße gefühlt und es mich sehr spüren lassen.”

Elena gab ein angewidertes Geräusch von sich. “Der letzte Satz”, sagte sie und wiederholte das Geräusch. “Fängst du nun an, mir über die Problematik mit Chris zu erzählen? Möchtest du das überhaupt?”

May seufzte. “Ja und nein. Ich möchte irgendwie gern, dass du Bescheid weißt. Mindestens, weil es ein wesentlicher Teil meiner Vergangenheit ist. Davon sind noch Überbleibsel in mir, mit denen ich wohl noch lange zu kämpfen haben werde und die immer wieder zum Vorschein kommen werden. Aber ich hatte gerade, kurz nachdem ich dich kennen gelernt habe, wieder alles Revue passieren lassen.” Sey seufzte noch einmal. Sere innere Stimmung wechselte auf eine düstere, aber zugleich vertraute, ruhige. Dann aber musste sey plötzlich grinsen. “Wenn dies hier nun, wie öfter besprochen, besagter Roman wäre, dann würde ich dich darauf verweisen, an die Stelle zurückzublättern, wo mein innerer Monolog ausgeführt worden wäre. Das Kapitel würde dann vielleicht ‘Fremdgefühle’ heißen oder so.”

Elena kicherte und zog sich enger in Mays Umarmung, legte den Hinterkopf halb in den Nacken, um sem ein Küsschen auf die Unterseite des Kinns zu geben, und dann, ganz vorsichtig, zu beißen. Und dann gab sie ein zweites Küsschen auf die Stelle. “Du vergisst, dass wir uns geeinigt haben, dass der Roman aus meiner Sicht geschrieben ist, Liebes”, erinnerte Elena. “Das heißt, wenn da innere Monologe sind, dann aus meiner Sicht.”

Mays obere Hand wanderte unter Elenas Armen weg am weichen Körper entlang in die Taillengegend und piekste sachte hinein. Elena zuckte und quietschte vorsichtig auf. May beschloss, die Frechheit zu besitzen, doch Elenas Ohr zu küssen, und wie vorhergeahnt holte Elena erschrocken Luft. May legte rasch den Arm, der gerade noch geneckt hatte, um Elenas Kopf herum, den Atem an ihrem Ohr behaltend, kontrolliert und warm über das Ohr und die Haut darunter streichen lassend. Elena schmolz in seren Armen dahin, war nicht mehr in dieser Welt. May lächelte. Sey liebte dieses Spiel, dieses Kennenlernen, was eine andere Person liebte. Sey liebte es, Elena die Denkfähigkeit zu rauben – und schob sere Hand unter ihr Schlafanzugoberteil, während sey sachte an Elenas Hals leckte und behutsam die Zähne über das Kinn fahren ließ, vorsichtig in die zarte Wangenhaut biss. Von der Seite. Wenn sey den Kopf weiter herumgewendet hätte, hätte Elenas Gesicht sich bedrängt und unwohl gefühlt. Elena atmete inzwischen sehr rasch und nicht unbedingt leise. “Soll ich weitermachen?”, flüsterte May in ihr Ohr. Elenas Atem stolperte. Sie füsterte: “Ja. Bitte.”


Als sie das nächste Mal aufwachten, war es warm draußen. Das Zelt stand zwar im Schatten, aber dennoch waren sie durchgeschwitzt und wollten beide duschen. Nacheinander. Sonst wäre es zu viel geworden.

May ging zuerst. Beim Duschen atmete sey die feuchte Luft bewusst ein. Sey schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu, um die andere Sensorik mehr wahrnehmen zu können. Die Feuchte auf der Haut und in den Atemwegen. Das Prasseln auf serem Körper. Sey hörte dabei auf die hohen Frequenzen, die das Auftreffen des Wassers durch sere Knochen vom Nacken in den Gehörsinn übertrug. Sey atmete, entspannte. Aber dann sah sey zu, dass sey sauber wurde. Das Wasser war hier nur fünf Minuten pro Duschmarke warm. Sey brauchte es eigentlich nicht einmal warm, aber ganz kalt war sem dann doch zu ungemütlich.

Das nasse Haar lag angenehm auf der Haut und durchnässte das T-Shirt, als sey zurückkehrte. Es war schon so spät, dass das Waffel Operation Center, kurz WOC, schon die ersten Waffeln produzierte, und bevor es zum sogenannten Waffelstillstand kommen würde, sammelte May zwei für Elenas und ser Frühstück gegen Spende ein. Sey suchte einen Biergartentisch im Schatten aus, wo sey dann auf Elena wartete. Nicht lange. Sie hatte ja auch nur fünf Minuten gehabt.

Sie aßen miteinander und sprachen zunächst kaum, nur solche Absprachedinge wie, dass eine Waffel für ein Sättigungsgefühl doch ziemlich wenig wäre, wer von ihnen Brötchen vom freien Frühstück holen würde und was vom wenigen übrig gebliebenen Aufschnitt ihnen behagte. Sie spülten hinterher ihr selbst mitgebrachtes Geschirr und setzten sich wieder an den Tisch zueinander. Sie hatten heute beide erst einmal keine fixen Pläne. Also saßen sie sich mit ihren Laptops gegenüber. Elena editierte einen Roman und machte sich Notizen für einen Blogeintrag. May suchte nach Bugs in einem Code.

“Störte ich dich gerade, wenn ich mit persönlichen Fragen ankäme?”, fragte Elena irgendwann.

May überlegte, Elenas Anfrage einen Moment zu verschieben, bis sey den Gedanken zu Ende geführt und die Funktion zu Ende geschrieben hatte, aber stellte fest, dass die Neugierde zu stark ablenkte. Also ergab sey sich. “Ja, aber nein. Also, ich möchte nun gestört werden”, sagte sey grinsend.

Elena machte keinen Kommentar dazu, sondern sprang direkt ins Thema: “Du sprachst im Workshop an, dass du wegen Chris überlegtest, ob solche Methoden auch für den Fall mit ihm funktionieren würden. Aber dass es zu kompliziert wäre, dich an die Situationen genau zu erinnern”, sagte sie. “War das auf die Situation in dem Workshop und die geringe Zeit bezogen? Oder würdest du darüber mit mehr Zeit nachsinnen mögen?”

“Du bist schon neugierig”, stellte May fest und klappte den Laptop zu.

“Oh”, machte Elena. “Vielleicht schon. Aber ich will dich zu nichts drängen. Wirklich nicht.”

“Macht nichts”, sagte May wieder lächelnd. “Vielleicht ist es gut, dass du neugierig bist. Ich glaube, ich möchte gern Gedankenexperimente mit Ideen in Richtung des Workshops machen. Und ich glaube, ich traue mich mehr, wenn es für dich nicht eher ein ertragen ist, sondern du es sogar interessant findest.”

“Also das auf jeden Fall”, versicherte Elena ohne Zögern.

May dachte nach. Nicht besonders effektiv allerdings. Sere Gedanken verschwanden zurück ins Zelt. Da wollte sey sie gerade nicht haben, also holte sey sie wieder aus dem Zelt heraus. Es war viel zu warm darin.

Wenn Elena so neugierig war, dann könnte May auch laut denken. Vielleicht half das. Der Einstieg, den sey wählte, war Chris’ Datingprofilspruch. “‘Ein sexy Millionär in tödlicher Gefahr. Sie müssen sich entscheiden, Ladies! Wollen Sie mich retten?’”, murmelte sey. “Diese Frage am Ende ist vielleicht ein guter Ansatz. Ich bin nicht sicher, ob ich das rübergebracht bekomme. Er hat Menschen eben vermittelt, dass sie sich schon ganz schön asozial verhalten würden, wenn sie ihm nicht gäben, was er will. Er hat es mehr als ein Brauchen dargestellt. Und das alles durch sehr manipulative Worte.” May brach ab und fluchte resigniert: “Ach, Mist, ich kann darüber nicht sinnvoll reden.” Sey war überhaupt nicht zufrieden mit diesem Monolog.

“Ich kann das, dieses Leute-nicht-ganz-wörtlich-Nehmen, wenn Ausdrucksweisen gerade nicht wollen”, beruhigte Elena sem.

May reagierte nicht. Sey glaubte Elena, dass sie nicht einfach irgendetwas falsch verstand. Aber vielleicht eben auch nicht richtig. Und eine Wut baute sich in sem auf. Wut auf sich selbst, selbst nach zehn Jahren noch nicht aussprechen zu können, was schlimm war. Nicht so einfach sagen zu können, diese Person hätte sem weh getan. Es war nicht physisch, es war nicht einfach eine Form von direktem Hass oder direkter Erniedrigung. Es war alles subtil und hinten herum. “Ich hasse es so”, murmelte sey. Sere Stimme klang dabei höchstens eine Spur wütend. Wie oft. “Dass ich es nicht einmal formuliert kriege.”

Elena wartete. Vielleicht, ob May noch etwas sagen würde. Aber das tat sey nicht. “Du klingst kaum wütend”, stellte Elena fest, was May auch schon registriert hatte. “Vielleicht solltest du versuchen, Wut auf ihn zu richten. Vielleicht solltest du ihm etwas an den Kopf werfen. Gedanklich.” Sie wirkte kurz zögerlich, fuhr aber schnell mit den Ausführungen ihrer Überlegungen fort: “Das hilft nicht so richtig, wenn du nicht was Konkretes gegen ihn zu sagen hast. Aber was wir schonmal wissen: er hat Geld und keine sonderlich soziale Einstellung, damit umzugehen. Vielleicht sollten wir ihm das Kapital an den Kopf schmeißen.”

May lachte auf. “Du meinst, ich gehe zu seiner Adresse, wo er nun wohnt, klingele, und wenn er an die Tür kommt, schmeiße ich ihm das Kapital gegen die Stirn?”, fragte sey belustigt. Die Vorstellung gefiel sem überraschenderweise durchaus.

“Gedanklich. Mir helfen manchmal solche Gedankenexperimente”, bestätigte Elena. “Aber das muss bei dir nicht genau so sein. Nur eine Idee.”

May stellte sich das Szenario vor. Die Klingel unter den Fingern. Das seltsam massive, kühle Plastik. Der Gedanke war unangenehm. Sey hatte Erinnerungen daran, dort zu stehen. Sie waren nicht im Einzelnen schlecht, aber sie waren verknüpft mit einem großen Ganzen, das sem Unbehagen bereitete. Dann öffnete Chris die Tür. Sey spürte gedanklich die Haptik des Buchs in der Hand, bewegte den Arm und warf. Mit Schwung. Dann prustete sey wieder los. “Das würde ein ganz großer Wurf werden. Ich kann so gar nicht zielen. So überhaupt nicht!”

“Dann musst du ein paar mehr Kapitäle mitnehmen. Vielleicht trifft dann eines!”, schlug Elena vor.

May ging die Vorstellung ein zweites Mal durch. Und weil sie witzig war, schloss sey die Augen und berichtete: “Ich habe also einen Stapel schwerer Käpitäle auf meinem linken Arm. (Ich war so frei, deinem Plural von Kapital noch ein weiteres ä zu gönnen).”

“(Finde ich gut.)”, kommentierte Elena die Randinfo.

“(Gut!) Dann klingele ich, mich kaum auf den Füßen haltend wegen des wabernden Stapels, an seiner Tür. Er macht auf und wundert sich, was ich nach all den Jahren wollen könnte. Ich sage: ‘Ich wollte dir nur das Kapital an den Kopf werfen, und weil ich nicht gut zielen kann, wie du mich immer wieder hast wissen lassen, wenn ich es denn mal probiert habe, solange, bis ich mich nicht mehr getraut habe, es zu probieren’” – bei den Worten schlich sich tatsächlich etwas Wut in Mays Stimme, und das gleichzeitig zu einem zufriedenen Lächeln über diesen Umstand –, “‘habe ich gleich mehrere davon mitgebracht.’ Ich nehme mir eines vom Stapel und schleudere es ihm entgegen. Es trifft den Türrahmen. Das nächste fängt er auf.” Sey brach ab bei der Vorstellung, dass er anfing, sem auszulachen. Atmete schwerer und weinte plötzlich.

Elena kam sofort herum und nahm sem in den Arm. Sie hatten genug darüber gesprochen, dass sie wusste, dass das war, was May brauchte. “Was ist passiert?”, flüsterte sie.

“Er lacht mich aus, weil ich ihn nicht treffe”, flüsterte May.

Elena nahm sem fester in den Arm. Sie ließ May allerdings nur einen kurzen Moment Verschnaufpause. “Ein Grund, ihm noch eins an den Kopf zu schmeißen. Mit mehr Schwung, weil er es richtig verdient. Weil es richtig böse und mies ist, in der Situation zu lachen!”, schimpfte sie. Leise, aber energisch. “Du bist da mit den Käpitälen, weil du sagen willst, dass etwas nicht okay ist. Ernsthaft nicht okay. Darüber zu lachen, ist erstens scheiße, aber in so einer Situation nochmal besonders.”

May klammerte sich an Elena, als sie das sagte. Dies. Genau dies. Sey atmete zitternd tief ein und aus und kehrte zurück in die Situation. Die Kapitäle waren nicht mehr notwendig, um die Gefühle zu entfesseln, die innere Abwehr, ihre Wand zu durchbrechen. Sey war wütend. Brandwütend. So wütend wie bisher nie. Gedanklich rückte sey mit einer Wurfmaschine mit Käpitälen an.

Gewaltfantasien waren nie sers gewesen. Es war nie sere Einstellung gewesen. Aber es half nun doch. Und irgendwann konnte sey wieder leichter atmen. Ser Körper entspannte sich in Elenas Armen. Sey hatte wahrscheinlich Spuren von Fingernägeln irgendwo hinterlassen, aber Elena beschwerte sich nicht. “Danke”, flüsterte May.

“Selber”, murmelte Elena lächelnd.

May war nicht ganz sicher, wofür eigentlich. Aber das war vielleicht auch nicht so wichtig. Nun waren sie auf noch eine ganz andere Art verliebt.


Das Problem an der Sache ist, dass es Chris’ Leben überhaupt nicht beeinflusst. Solange der Plan mit der Wurfmaschine nicht in die Tat umgesetzt wird, ändert sich für Chris überhaupt nichts. Wir könnten natürlich darüber fantasieren, dass May tatsächlich mit einer Wurfmaschine mit Kapitälen vor Chris’ Haustür auffährt, aber das ist nicht Realität. In der Realität passiert einfach nichts. Beziehungsweise schon. Mit May ist hier ja schließlich eine Menge passiert. Viel später. Und es ist nie alles gut. Manches trägt man einfach das ganze Leben mit sich rum, wird ein Teil der Person. Manchmal ein Teil, den man mögen kann, auf eine bestimmte Art. Aber darum geht es hier nicht.

Die Frage ist, wie dieser Roman dem Klappentext gerecht werden kann, in dem es heißt, dass das Leben des Bad Boys auf den Kopf gestellt wird. Und das passiert vielleicht in einer Art, die May und Elena schon die ganze Zeit semierfolgreich ausprobiert haben. Die Wand zu brechen. Und zwar die vierte. Vielleicht wäre ein passender Titel dieses Buches tatsächlich eher Elenas vorgeschlagener gewesen: Der Fall der vierten Wand.

Ihr habt sicher schon festgestellt, dass Mays und Elenas Vermutung, dass die Geschichte aus Elenas Sicht geschrieben wäre, nicht richtig war. Aber vielleicht ist ihr Ansatz richtig, dass es auch nicht Mays hätte sein sollen. Oder zumindest jetzt nicht mehr. Sondern die Sicht der Menschen da draußen, außerhalb der vier Wände dieses Buchs.

Es wäre für einen Chris dieser Art viel schwieriger gewesen, wenn Mays Freundin ihn in Telefonaten nicht verteidigt hätte. Wenn es nicht hieße, alle Probleme ließen sich lösen. Wenn nicht direkt sichtbare Probleme nicht verteidigt werden müssten, sondern Perspektiven betroffener Personen einfacher geglaubt würden.

Es wäre für einen Chris dieser Art auch schwieriger, wenn Geschichten nicht ungesunde Narrative über Romantik verbreiten würden. Wenn toxische Handlungen wegen Eifersucht und ein Überrennen von Abgrenzungen wegen Anfassenwollen und ähnlicher Bedürfnisse nicht in Geschichten als Zeichen von Liebe dargestellt würden.

Wenn wir daran arbeiten, zu verstehen, was Konsens ist. Dass angstfreie Kommunikation dafür möglich sein muss, Raum haben muss.

Wenn wir daran arbeiten, dann stellt sich die Welt für Chris gegebenenfalls tatsächlich auf den Kopf. Zumindest ein bisschen. Wenn wir glauben lernen, dass wir sein dürfen. Wenn wir lernen können, dass es nicht okay ist, wenn Leute uns das Gegenteil fühlen lassen. Dass die Wut erlaubt ist.

Und die Wand bricht.