Schlimmstenfalls
Svite
Sie kabbelten sich, und zwar ganz anders als die kabbelige See herumkabbelte. Als Svite Jaschka erblickt hatte, waren sie aufeinander zugestürmt, gegeneinander gerannt, und wälzten sich nun auf der Wiese herum, bis Svite gewann. Svite gewann immer. Aus der Puste lag Jaschka unter ihr. Wunderschön. Mit diesem gespielt verzweifelten Gesichtsausdruck, der sehr niedlich war.
“Ich möchte dich küssen.”, sagte Svite.
Wo kam das denn jetzt her, dachte sie für sich.
Jaschka schüttelte den Kopf. “Nein.” Und fügte, vielleicht ängstlich, hinzu: “Bist du enttäuscht?”
Svite schüttelte den Kopf. “Dann küsse ich dich halt nicht.”
“Ich bin nicht verliebt in dich oder sowas.”, erklärte Jaschka.
“Ich in dich auch nicht.”, sagte Svite nachdenklich. Woher kam der Wunsch?, fragte sie sich erneut. “Wenn ich dich angucke, dann ist das nicht sexuell oder sowas. Und auch nicht romantisch, denke ich. Ich mag dich einfach gern anfassen. Ich mag dein festes Haar, und wie es riecht. Ich mag deine niedlichen Gesichtsausdrücke und dein zartes Wimmern. Und ich mag deine Haut. Die Konsistenz davon. Ich mag dein Gewebe.”
Jaschka kicherte los – was die Gesichtszüge zu einem nicht weniger niedlichen Ausdruck verformte.
Es beruhigte und verwirrte Svite. Es beruhigte, weil Svite plötzlich Angst gehabt hatte, Jaschka zu nahe getreten zu sein. Es verwirrte, weil Svite nicht die geringste Ahnung hatte, was daran lustig sein sollte. Also fragte sie: “Habe ich was Witziges gesagt? Und falls ja, was?”
“Ich glaube, über Konsistenz von Gewebe zu reden, sind äußerst unübliche Worte bei Komplimenten.”, hielt Jaschka breit grinsend fest.
“Merkwürdig.”, sagte Svite. “Wie soll ich denn sonst ausdrücken, warum du dich für mich so gut anfühlst?” Und dann besann sie sich, und brachte ihre Angst von vorhin noch einmal zur Sprache, damit es sicher abgeklärt wäre. “Soll ich dich loslassen? Ist dir meine Komplimentiererei unangenehm?”
Jaschka schüttelte den Kopf. “Ich mag dich. Ich fühle halt einfach keine Verliebtheit oder sowas. Ich mag, dass du stärker bist. Ich fühle mich von dir eingeklemmt irgendwie beschützt. Und wenn es wirklich nicht romantisch ist, dann darfst du mich küssen.”
“Sicher?”, fragte Svite. Eigentlich neigte Jaschka nicht zu voreiligen Entscheidungen, aber hier wollte Svite lieber noch einmal nachfragen.
Jaschka grinste. “Mach!”
“Ich kann nicht versprechen, dass ich dann nicht doch romantisches Gedöns spüre.”, überlegte Svite. Sie hatte schließlich noch nie anderer Leute Münder geküsst. Ihren eigenen erst recht nicht, es sei denn, es zählte, auf Lippen herumzukauen.
“Dann hörst du auf, sobald das passiert.”, sagte Jaschka.
Svite quetschte Jaschka noch etwas fester zwischen den Knien ein, was ein wunderschönes, kurzes Fiepen hervorrief, und berührte die Lippen dieser hervorragenden Person unter ihr mit ihren eigenen, drückte sehr sanft das weichste an Gewebe in diesem Gesicht etwas zusammen, und zupfte vorsichtig mit den eigenen Lippen daran. Nur kurz. Sie bewegte sich dann ein bisschen weg von Jaschkas Gesicht, um den Ausdruck darin zu lesen. Er wirkte etwas weniger gespielt verzweifelt. Vielleicht gelangweilt? Was hatte Svite auch erwartet. Es war eine merkwürdige Idee.
Sie probierte es ein zweites Mal. Immerhin war es wirklich weiches, zartes Gewebe und sehr zarte Haut. Sie fühlte sie mit den eigenen sensiblen Lippen nach, und berührte dann mit selbigen noch einmal die Wangen zum Vergleich. Die Wangen hatte Svite schon oft geküsst. Woher hatte Jaschka eigentlich gewusst, dass Svite nicht die Wangen gemeint hatte, als sie gesagt hatte, sie wolle Jaschka küssen?
Svite richtete sich wieder auf und blickte aus sicherem Abstand in das Gesicht unter ihr. “Wie war es?”
Jaschka schüttelte den Kopf. “Eigentlich nicht schlimm, aber es erinnert mich zu doll an Küssen mit Leuten, die in mich verliebt sind, und ich mag das nicht.”
Svite nickte. “Dann lasse ich das halt. Das bringt dann ja nix.”
Jaschka grinste. “Ich habe dich schon ganz schön gern.”
“Ich habe noch eine andere Frage, Jaschka.”, sagte Svite.
Irgendwas Schönes passierte in Jaschkas Gesicht. “Der Name ist so gut! Ich freue mich einfach jedes Mal, wenn du ihn für mich benutzt.”
Svite nickte und grinste. Das wusste sie schon, und sie tat es deshalb absichtlich. “Willst du, dass ich, wenn ich über dich rede oder auch nur über dich nachdenke, dass ich das mit Wörtern wie ‘sie’ mache, oder sowas sage, wie ‘meine Liebe’, oder dass ich von dir als ‘Freundin’ rede?”
Jaschka nickte langsam. “Das hatte ich dir damals auch umgekehrt angeboten. Ich glaube, das kann helfen, mich voll in die Rolle einzufühlen. Ich denke testweise von mir selber auch schon als ‘sie’.”
Svite rollte sich von Jaschka herunter und legte den eigenen Kopf auf Jaschkas Arm. Jaschka strich Svite sehr zart über das Haar. Svite mochte diese sehr weichen Berührungen, die eigentlich nichtmal ihre Kopfhaut berührten, sondern nur das Haar darauf bewegten.
Es war nun sechs Jahre her, dass Jaschka und sie von dem Fischereitörn zurückgekehrt waren, für den Svite sich als Junge verkleidet hatte, um mitzusegeln. Es war arg geflährlich gewesen. Aber auch schön. Aber auch gefährlich. Aber irgendwie hatte sich Svite in der Crew richtig gefühlt. Sie vermisste das Gefühl. Auch wenn es so gefährlich gewesen war und es ihr – im Nachhinein wurde ihr das erst klar – wohl das Leben gekostet hätte, wenn sie entdeckt worden wäre.
Nun hatte Svite einiges an Oberweite. Ihr Körper eignete sich für solche Späße nicht mehr. Muskeln hatte sie, nicht wenig. Es gab einen Grund, warum Jaschka immer verlor. Aber sie hatte Kurven und sowas, – fürchterliche Dinge.
Jaschka und sie hatten den Rest ihrer Spätkindheit an Land als Gesindel eines Bauernhofs mit Fischerei gearbeitet. Es war stinkende Schwerstarbeit. Jaschka hatte immerhin auf eine Jungenschule gehen können. Ihr Körper machte Schwerstarbeit schlechter mit als Svites. Eigentlich war der Plan gewesen, dass Jaschka ihr abends zum Einschlafen das Gelernte vermittelte, aber das scheiterte an ein paar Dingen. An Müdigkeit, oder daran, dass Svite eine Lernbehinderung hatte, auf die Jaschka nicht so sonderlich brauchbar eingehen konnte. Für Svite war Ungeduld äußerst unangenehm. Davon hatte es bei dieser Fischerei- und Bauersarbeit auch ohne Jaschkas Lerngedöns schon genug gegeben.
Vor einem halben Jahr hatte Svite davon die Nase voll gehabt und in Geesthaven eine Arbeit in einer Bäckerei gefunden. Und wenn Jaschka Svite besuchte, tat sie es mit Kleidern und einer anderen Frisur und dem wunderschönen Namen Jaschka, weil in Svites Zimmer kein Herrenbesuch erlaubt war. Sie hätten zwar offiziell als Geschwister durchgehen können, weil Jaschkas Vater Svite schon vor Jahren auch als sein Kind aufgenommen hatte, aber sie wollten lieber kein Risiko eingehen. Es war Jaschkas Idee gewesen und machte ihnen auch irgendwie Spaß.
“Möchtest du mal wieder zu einer Seefahrt anheuern?”, fragte Jaschka unvermittelt.
In Svite verkrampfte sich alles.
Jaschka merkte es sofort und legte sanft die Arme um sie. “Antworte trotzdem.”, flüsterte sie.
“Ja.” Svite hatte versucht zu flüstern, aber ihre Stimme machte nicht immer, was sie wollte, deshalb war es eher die akustische Version von etwas Viereckigem, was da aus ihrer Kehle kam.
“Hast du schonmal vom Windsbräutigam gehört?”, fragte Jaschka.
“Sag bloß, die Crew sucht nun weniger veradelte Leute.” Natürlich hatte Svite von der reinen Frauencrew gehört, die mit einem Schiff namens Windsbräutigam die Monarchin Skanderns durch die Gegend kutschiert hatte, als diese noch gelebt hatte. Königin Rihi, von Übersee, vom Kontinent Arelis. Sie hatte König Heinreld den VI. zwei Mal geheiratet – sozusagen. Einmal nach der Tradition hierzulande, und einmal eine Entsprechung von Heiraten dortzulande. Jaschka hatte Svite einmal erklärt, dass das da drüben nicht wirklich heiraten war. Aber heiraten hier war ja auch schon nicht heiraten hier: Manches Heiraten war irgendwie politisch, für Macht und Kriege und so etwas, und hatte nicht viel mit heiraten zu tun, das Kindern irgendwie mehrere Eltern sicherte, wenn das denn klappte. Jedenfalls war Königin Rihi drüben nicht Königin sondern nur Rihi geweseb, hatte da mehr zu sagen gehabt als hier und hatte deshalb regelmäßig ihre Heimat besucht. Damit das alles anstandsmäßig seine Richtigkeit hatte, oder auch damit sie weniger lüsterne Blicke erleiden müsste, war deshalb eine rein weibliche Crew aus adeligen Frauen und ein paar Frauen aus Arelis zusammengestellt worden. Nach dem Tod Rihis schipperte die Crew nun Waren zwischen den Kontinenten hin und her. Sie hatten öfter in Geesthaven angelegt, der einer der Partnerhaven war und besonders gastfreundlich sein sollte. Deshalb auch Gasthaven, oder im nordischen Dialekt eben Geesthaven.
Während in Arelis Seefahrt wohl generell eher von Frauen bestritten wurde, brachten hier Frauen an Bord angeblich Unglück. Svite hatte damals an Bord kein Unglück gebracht, woraus sie schloss, dass das mit dem Unglück entweder Seemannsgarn war oder sie irgendwie doch keine Frau. Aber auch diese reine Frauencrew schien nicht so viel Unglück beim Überqueren des Ozeans nach Arelis und zurück zu haben, obwohl sie sogar zur Hälfte aus Frauen von hier bestand. Aus dafür extra ausgebildeten, adeligen Frauen.
Svite machte die Existenz dieser Crew wütend, und sie wusste nicht genau, warum.
Svite spürte ein zartes Küsschen in ihrem Haar. “Ja.”, sagte Jaschka leise. “Sie möchten ein paar neue Crewmitglieder anwerben, und beschränken sich dabei nicht auf Adel.”
“Woher weißt du das?”, fragte Svite.
“Sie haben halt bei Papa und in allen anderen Fischereien angefragt, weil da manchmal Mädchen auf Kuttermaranen mitgenommen wurden oder werden.”, erklärte Jaschka. “Er war etwas überfordert, aber er meinte, er habe eine Tochter, die er mal fragen könnte.”
Sie waren tatsächlich schon als kleine Kinder mitgefahren und hatten mit angepackt, – bei den Segeln, dem Ruder, den Netzen. Der Geruch von Fisch und Tang, das Geschrei von Möwen. Svite liebte es und hasste es. Es war zu dicht vor Ufer. Es hatte nichts mit einem Freiheitsgefühl zu tun. Und sie mochte auch mehr das Segeln als das Fischen. Aber sie war wohl so eine Tochter, die auf einem Kuttermaran mitgenommen worden war. Und Jaschka im Prinzip auch.
“Meinte er damit dich oder mich?” Svite grinste vorsichtig.
“Uns beide?” Jaschka lächelte unsicher mit. “Ich glaube, er hätte am liebsten von zweien gesprochen, war aber zu überrumpelt und zu unsicher.”
Sowas passte zu ihm. Ihr Papa hatte Svite damals schon ermutigt, sich als Junge zu verkleiden und auf dem Fischereitörn für die Nordmeere Skanderns anzuheuern. Er wusste irgendwie schon, was seine Kinder wollten, und statt sich dagegen zu stellen, unterstützte er sie in was auch immer sie wollten. Nur, wenn er es noch nicht wusste, war er unsicher.
“Möchtest du dich dort bewerben?”, fragte Svite. “Heißt das so? Bewerben?”
“Nur mit dir.”, murmelte Jaschka.
“Das würde für dich genauso lebensgefährlich werden wie für mich damals, vermute ich.” Svite wunderte sich über die eigene Stimmung. Sie vermutete, dass nicht so viel davon nach außen drang. Das war oft so. Obwohl Jaschka durchaus sehr feinfühlig war für so etwas. Sie hätte jedenfalls irgendwie glücklich sein müssen: Es war da Hoffnung, dass sie wieder zur See fahren könnte! Sie hatte geliebt, auf einem Schiff zu leben! Sie hatten gemeinsam oft davon getagträumt, wie sich so eine Gelegenheit wieder bieten könnte. So eine wie jetzt wäre vermutlich ungefähr einmalig. Und vielleicht hätte Svite als sehr kräftige Person mit Erfahrung auch Chancen. Sie murmelte: “Wie erkläre ich meine seemännischen, äh, seewesenischen Erfahrungen? Also, die vom Nord-Skandern-Törn. Nicht die Fischkuttermaran-Dinge.”
“Wir sagen, dass wir mal als Jungen verkleidet auf einem Fischereitörn mitgesegelt sind?”, schlug Jaschka vor.
“Gewagt.” Svite musste trotzdem grinsen. Es war witzig. Es traf ihren Humor. Die merkwürdige Asymmetrie von zwei Herzpersonen, von denen die eine – sie – zuvor sich verkleidet hatte, und nun wäre es umgekehrt. Und das Verbotene von damals offenzulegen, könnte die Eintrittskarte sein.
“Was könnte schlimmstenfalls passieren?”, fragte Jaschka.
Svite grinste breiter. Sie war gut darin, Horrorgeschichten zu ersinnen. “In jeder Variante wirst du ausgezogen.”
“Ich weiß.”, seufzte Jaschka freundlich. “Sei kreativ.”
“Ich denke, es passiert als Folge auf deinen Stimmbruch. Also, du bekommst unerwartet doch noch einen dolleren.” Jaschka hatte zwar irgendwann eine tiefere Stimme bekommen, aber keine so tiefe, wie die meisten Männer hier. Es lag vielleicht daran, dass sie Dunkelelb war. “Oder weil du beim Anblick einer der Frauen eine Erektion bekommst. Aber auch nicht direkt nach Fahrtantritt. Sondern so mitten auf dem Meer. Irgendwo, wo es kalt ist. Am besten am Südpol.”, überlegte Svite.
“Wieso fahren wir zum Südpol? Reicht der Norden nicht?”, fragte Jaschka.
“Südpol ist weiter weg. Wir nehmen den Südpol. Aus Sicherheitsgründen.” Der Ausdruck ‘Aus Sicherheitsgründen’ war etwas, was sie einfach überall dranhängte, wo es eigentlich keine gute Begründung gab. “Sie setzen uns da auf einer Eisscholle aus. Oder nein, dort erfrieren wir zu schnell, das ist zu harmlos. Eine sehr kalte Insel nahe des Südpols oder so. Dort setzen sie uns aus.”
“Uns? Wieso dich?”, fragte Jaschka.
“Weil ich dich nicht allein krepieren lassen werde, du Schnürsenkel.” Svite suchte, ohne hinzusehen, mit dem Zeigefinger Jaschkas Nase, um daraufzustupsen, und stupste auf der Suche eine Augenbraue, eine Wange und einen Mundwinkel, bevor sie die Nasenspitze fand.
“Äußerst liebenswürdig. Ich werde zusehen, dass ich mich niemals ausziehe.”, versicherte Jaschka.
“In unserer Horrorgeschichte übernehmen das andere.”, korrigierte Svite. “Es handelt sich um eine Unausweichlichkeit. Und dann erfrieren wir auf dieser Schneeinsel. Das ist es. Schlimmstenfalls.”
“Wenigstens hast du noch Kleidung.”, stellte Jaschka beruhigt fest.
“Die reicht nicht für uns beide. Aber du kannst sie ganz haben.”, überlegte Svite. “Du bist viel frostkötteliger als ich.”
“Einverstanden.” Jaschka wirkte trotzdem zögerlich, und ihr Einwand ließ auch nicht lange auf sich warten. “Erfrieren ist, habe ich gehört, ein verhältnismäßig freundlicher Tod.”
“Oh, du hast recht.”, stimmte Svite zu. “Also, dann kommen, kurz bevor wir gefühlstaub sind, noch Eisbären. Oder Haie. Die uns verspeisen. Langsam.”
“Nun hört sich das schon eher nach einem schlimmen Szenario an.”, überlegte Jaschka. “Tun wir’s?”
Svite atmete sehr tief ein und aus. Sie hatte doch längst entschieden. Auch wenn ihr da einiges dran nicht gefiel. Etwa, dass sie nicht die Person mit dem viel zu hohen Risiko war. Aber das war albern. Sie wollte für sie beide kein solches Risiko. Sie atmete noch einmal tief ein und aus. “In Ordnung. Ich bin dabei.”